Page 803 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Zur Bekräftigung läßt sich noch ein andres, denkwürdiges Beispiel
                anführen, das sich in Capua zutrug, als Hannibal die Römer bei Cannae
                geschlagen hatte. Nach dieser Niederlage, die ganz Italien zum Aufruhr

                brachte, stand auch Capua im Begriff, sich zu empören, und zwar wegen
                des Hasses zwischen Volk und Senat. Livius XXIII, 2 f. Pacuvius
                Calavius, der dort die höchste Würde bekleidete, erkannte die Gefahr
                einer Empörung und beschloß, kraft seines Amtes Volk und Adel wieder
                zu versöhnen. In diesem Sinne versammelte er den Senat, verwies auf
                den Haß des Volkes und auf die Gefahr, daß das Volk die Senatoren
                ermorden und die Stadt dem Hannibal ausliefern werde, da die Römer

                völlig geschlagen seien. Wenn sie ihm jedoch die Sache überlassen
                wollten, so werde er eine Einigung zustande bringen; er müsse sie aber
                in das Rathaus einschließen, um sie dadurch zu retten, daß er dem Volke
                die Macht gebe, sie zu strafen. Die Senatoren gingen auf seinen
                Vorschlag ein, und er schloß den Senat im Rathaus ein. Dann berief er
                das Volk zur Versammlung und sagte, jetzt sei die Zeit gekommen, den

                Übermut des Adels zu brechen und sich für die erlittenen Kränkungen zu
                rächen, denn er habe sie alle unter seinem Gewahrsam eingesperrt. Er
                glaube jedoch, das Volk würde die Stadt nicht ohne Regierung lassen
                wollen, und so müßte es vor der Hinrichtung der alten Senatoren neue
                ernennen. Darum habe er die Namen aller Senatoren in einen Beutel
                getan; er werde sie vor dem Volke herausziehen und die
                Herausgezogenen nacheinander töten lassen, sobald man ihre Nachfolger

                gefunden habe. Als er den ersten gezogen hatte, erhob sich bei seinem
                Namen ein großer Lärm; man nannte ihn stolz, grausam und anmaßend.
                Als aber Pacuvius verlangte, einen Ersatzmann zu wählen, schwieg die
                ganze Versammlung still. Nach einer Weile wurde einer aus dem Volke
                genannt, bei dessen Namen der eine zischte, der andere lachte, der dritte
                auf diese, der vierte auf jene Weise Übles von ihm sagte. Und so wurden

                nacheinander alle, die man nannte, der Senatorenwürde für unwert
                gehalten. Diese Gelegenheit ergriff Pacuvius und sprach: »Da ihr der
                Meinung seid, daß die Stadt ohne Senat nicht bestehen kann, und da ihr
                euch über den Ersatz für die alten Senatoren nicht einigen könnt, so halte
                ich es für das beste, wenn ihr euch wieder aussöhnt; denn durch die
                Angst, die die Senatoren ausgestanden haben, sind sie sicher so demütig
                geworden, daß ihr die Nachgiebigkeit, die ihr anderswo sucht, bei ihnen

                finden werdet.« Das Volk ging darauf ein, und die Einigung erfolgte. Der
                Irrtum des Volkes aber kam an den Tag, als es gezwungen war, sich auf
                Einzelheiten einzulassen. Ebenso täuschen sich die Völker gemeinhin bei







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