Page 826 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Achtundfünfzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                            Die Menge ist weiser und beständiger als ein Fürst.


                Titus Livius sagt, daß nichts eitler und unbeständiger sei als die Menge,
                und alle andern Geschichtsschreiber bekräftigen es. Häufig liest man in
                den Jahrbüchern der Geschichte, daß die Menge einen Mann zum Tode
                verurteilt und ihn später beweint, ja ihn sehnlichst zurückwünscht, wie
                man es beim römischen Volke mit Manlius Capitolinus sieht. Die Worte

                des Livius VI, 20. Manlius Capitolinus wurde 384 v. Chr. hingerichtet.
                lauten: Populum brevi, posteaquam ab eo periculum nullum erat,
                desiderium eius tenuit. (Nachdem nichts mehr von ihm zu
                befürchten war, erwachte im Volk die Sehnsucht nach ihm.) Und an
                andrer Stelle, wo er erzählt, was sich in Syrakus nach dem Tode des

                Hieronymus, 215 v. Chr. Vgl. Livius XXIV, 25, und S. 142, Anm. 16
                dieses Werkes. des Neffen Hieros, zutrug, sagt er: Haec natura
                multitudinis est, aut servit humiliter, aut superbe
                dominatur. (Das ist die Natur der Menge, sie dient sklavisch oder
                herrscht übermütig.)
                     Ich weiß nicht, ob ich mir nicht eine zu harte und schwierige
                Aufgabe vornehme, die ich entweder mit Schande aufgeben oder durch
                deren Lösung ich mir Vorwürfe zuziehen muß, die Aufgabe nämlich,
                eine Sache zu verteidigen, die, wie gesagt, von allen Schriftstellern
                verurteilt worden ist. Aber sei dem, wie ihm wolle, ich werde es nie für

                einen Fehler halten, Meinungen mit Gründen zu verteidigen, ohne mich
                auf Autoritäten zu berufen oder sie jemand aufzuzwingen. Ich sage also:
                der Fehler, den die Schriftsteller der Menge vorwerfen, läßt sich ebenso
                allen Menschen im Einzelnen und den Fürsten im Besonderen
                vorwerfen; denn jeder, der nicht durch die Gesetze im Zaum gehalten
                wird, dürfte denselben Fehler begehen wie die entfesselte Menge.

                     Das läßt sich leicht einsehen, denn es gibt und gab viele Fürsten, aber
                nur wenig gute und weise. Ich rede von solchen Fürsten, die den Zaum,
                der sie zügelt, zerreißen konnten. Hierzu gehören nicht die Könige von
                Ägypten, als dies Land im grauen Altertum durch Gesetze regiert wurde,
                auch nicht die spartanischen Könige noch die heutigen französischen;
                denn das jetzige Frankreich wird mehr durch Gesetze beschränkt als






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