Page 828 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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und behaupte, es verhält sich bei ihnen mit diesen Sünden nicht anders
als bei den einzelnen Fürsten. Wenn jemand die Völker und die Fürsten
des gleichen Fehlers beschuldigt, so könnte er wohl recht haben; nimmt
er aber die Fürsten aus, so irrt er. Denn ein herrschendes Volk mit guter
Verfassung wird beständig, klug und dankbar sein, so gut wie ein Fürst,
ja mehr als ein Fürst, auch wenn er für weise gehalten wird. Andrerseits
wird ein Fürst, der nicht an Gesetze gebunden ist, undankbarer,
unbeständiger und unklüger sein als ein Volk. Die Verschiedenheit ihres
Benehmens aber rührt nicht von der Verschiedenheit ihrer Natur her
(denn die ist bei allen die gleiche, und überwiegt das Gute, so ist es beim
Volke), sondern von der größeren oder geringeren Scheu vor den
Gesetzen, unter denen beide leben.
Betrachtet man das römische Volk, so sieht man, daß es 400 Jahre
lang dem Königtum feind war und den Ruhm und das öffentliche Wohl
seines Vaterlandes liebte. Viele Beispiele bezeugen eins wie das andre.
Wollte man mir seine Undankbarkeit gegen Scipio einwenden, so
beziehe ich mich auf das, was ich schon früher S. Kap. 29. ausführlich
dargelegt habe, daß nämlich die Völker weniger undankbar sind als die
Fürsten. Und was die Klugheit und Beständigkeit betrifft, so sage ich,
daß ein Volk klüger und beständiger und von richtigerem Urteil ist als
ein Fürst. Nicht ohne Grund sagt man: Volkes Stimme, Gottes Stimme.
Die öffentliche Meinung prophezeit so wunderbar richtig, als sähe sie
vermöge einer verborgenen Kraft ihr Wohl und Wehe voraus. Was die
richtige Beurteilung der Dinge betrifft, so sieht man nur äußerst selten,
daß das Volk, wenn es zwei Redner von verschiedenen Parteien, aber
von gleichem Geschick hört, nicht der besseren Meinung folgt und die
Wahrheit nicht zu erfassen vermag. Irrt es, wie schon gesagt, Kap. 57 bei
kühnen oder nützlich scheinenden Vorschlägen, so irrt auch ein Fürst in
seinen eignen Leidenschaften, die viel zahlreicher sind als beim Volke.
Man sieht auch, daß das Volk bei der Besetzung der Ämter eine viel
bessere Wahl trifft als ein Fürst. Nie wird man ein Volk überreden
können, einen verworfenen Menschen mit verderbten Sitten zu einer
Würde zu erheben, wogegen man dies einem Fürsten leicht und auf
tausend Arten einreden kann. Man sieht ein Volk Abscheu vor etwas
fassen und viele Jahrhunderte dabei beharren, was man bei Fürsten nicht
sieht. Für die beiden letzten Punkte legt das römische Volk genügendes
Zeugnis ab, denn es hat mehrere Jahrhunderte lang, bei so vielen Wahlen
von Konsuln und Tribunen, nicht vier Wahlen zu bereuen gehabt, und
gegen den Königstitel hegte es solchen Haß, daß kein Verdienst eines
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