Page 824 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Siebenundfünfzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                         Vereinigt ist das Volk mutig, in den Einzelnen schwach.


                Nach der Zerstörung Roms durch die Gallier waren viele Römer gegen
                Befehl und Anordnung des Senats nach Veji gezogen. Um dieser
                Unordnung zu steuern, erließ der Senat ein Edikt, jedermann solle nach
                einer gewissen Zeit bei Strafe nach Rom zurückkehren. Über dies Edikt
                spotteten die, gegen die es gerichtet war; als aber die festgesetzte Zeit

                herankam, gehorchten alle. Livius bemerkt dazu: Ex ferocibus
                universis, singuli, metu suo, obedientes fuere. VI, 4. (Aus
                denen, die alle zusammen trotzig gewesen, wurden einzelne, die, jeder
                aus Furcht für sein Schicksal, gehorchten.) In der Tat läßt sich die Natur
                der Menge in dieser Hinsicht nicht besser beschreiben. Denn die Menge

                redet oft kühn gegen die Gebote ihrer Fürsten; sieht sie dann aber die
                Strafe vor Augen, so verläßt sich keiner auf den andern, und jeder
                gehorcht schleunigst. Man sieht also die Belanglosigkeit dessen, was das
                Volk von seinem guten oder schlechten Willen sagt, wofern man darauf
                eingerichtet ist, eine Sache durchzuführen, wenn es gutwillig ist, und
                sich vor Ausschreitungen zu schützen, wenn es widerwillig ist. Gemeint
                sind hier aber nur solche Mißstimmungen im Volke, die nicht aus dem

                Verlust seiner Freiheit oder eines geliebten, noch lebenden Fürsten
                entspringen, denn diese letzteren sind über alles furchtbar und können
                nur mit den schärfsten Mitteln unterdrückt werden. Die übrigen sind
                unwesentlich, wenn das Volk keine Führer hat, bei denen es einen
                Rückhalt findet. Es gibt zwar nichts Furchtbareres als eine entfesselte
                Menge ohne Haupt, Nach Cicero, De legibus, III, 10. aber auch nichts

                Schwächeres. Denn hat sie auch zu den Waffen gegriffen, so ist es doch
                leicht, sie wieder zur Ruhe zu bringen, wenn man nur einen Zufluchtsort
                hat, um ihrem ersten Ansturm zu entkommen. Haben sich die Gemüter
                erst etwas abgekühlt, und jeder sieht ein, daß er nach Hause zurück muß,
                so fängt er an, für sich selber zu fürchten, und ist durch Flucht oder
                Vergleich auf seine Sicherheit bedacht. Will daher eine aufgebrachte
                Menge den Gefahren entgehen, so muß sie sofort aus ihrer Mitte einen

                Führer erwählen, der sie leitet, zusammenhält und für ihre Verteidigung
                sorgt. So tat es das römische Volk, als es nach dem Tode der Virginia





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