Page 827 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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irgendein heute bekanntes Reich. Könige, die mit solchen Verfassungen
                regieren, sind nicht unter die Fürsten zu zählen, bei denen man die
                menschliche Natur an sich beobachten und sehen kann, ob sie der Menge

                gleichen; denn mit ihnen verhält es sich ebenso wie mit einer durch
                Gesetze gezügelten Menge. Und bei ihr wird man dann dieselben guten
                Eigenschaften finden wie bei den Fürsten; sie wird weder übermütig
                herrschen und sklavisch dienen.
                     So diente das römische Volk, als die Sitten der Republik noch rein
                waren, nie sklavisch, noch herrschte es übermütig, sondern es behauptete
                seinen Rang vermöge seiner Einrichtungen und Behörden mit Ehren.

                Mußte es sich gegen einen Mächtigen auflehnen, so geschah es wie
                gegen Manlius, die Dezemvirn und andre, die es unterdrücken wollten.
                Mußte es zum öffentlichen Wohl den Diktatoren und Konsuln
                gehorchen, so tat es das. Und sehnte es sich nach dem toten Manlius
                Capitolinus zurück, so ist das kein Wunder, denn es sehnte sich nach
                seinen Tugenden, die so groß waren, daß ihr Andenken jeden zum

                Mitleid bewog, und die die gleiche Wirkung wohl auch auf einen Fürsten
                gehabt hätten. Denn alle Schriftsteller stimmen darüber überein, daß man
                die Tugend auch bei seinen Feinden lobt und bewundert. Wäre Manlius
                aber während dieser großen Sehnsucht wieder auferstanden, so hätte das
                römische Volk das gleiche Urteil über ihn gefällt wie damals, als es ihn
                aus dem Gefängnis zog und zum Tode verurteilte. Sieht man doch auch
                für weise geltende Fürsten, die einen Menschen hinrichten ließen und

                sich dann aufs heftigste nach ihm zurücksehnten, wie Alexander nach
                Klitos Vgl. Curtius Rufus. Geschichte Alexanders des Großen, VII, 1 ff.
                und andern Freunden und Herodes nach Mariamne. Herodes der Große
                (62-4 v. Chr.), seit 40 König von Judäa, ließ seine Gemahlin Mariamne,
                zwei Söhne und andre Familienmitglieder hinrichten. Was aber unser
                Geschichtsschreiber von der Natur der Menge sagt, gilt nicht für eine

                durch Gesetze gezügelte Menge, wie die römische, sondern für eine
                zügellose, wie die syrakusanische, die die Verbrechen rasender und
                zügelloser Menschen beging, wie Alexander und Herodes in den obigen
                Fällen. Darum ist die Natur der Menge nicht mehr anzuklagen als die der
                Fürsten, weil beide in gleichem Maß sündigen, wenn sie ungestraft
                sündigen können. Dafür gibt es außer den obigen Beispielen zahlreiche
                unter den römischen Kaisern wie unter den übrigen Tyrannen und

                Fürsten, bei denen man mehr Unbeständigkeit und wechselndes
                Benehmen sieht als je bei der Menge.
                     Ich widerspreche daher der gewöhnlichen Meinung, wonach die
                Völker, wenn sie herrschen, unbeständig, veränderlich, undankbar sind,





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