Page 835 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 835
Zweites Buch
Inhaltsverzeichnis
Äußere Politik und Kriegführung
Die Menschen loben stets die alten Zeiten, wenn auch nicht immer mit
Recht, und klagen die Gegenwart an. Sie sind so parteiisch für die
Vergangenheit, daß sie nicht allein die Zeitalter preisen, die sie aus den
Überlieferungen der Schriftsteller kennen, sondern auch die Zeiten ihrer
Jugend, deren sie sich in ihrem Alter erinnern. Wenn der Standpunkt
verkehrt ist, und das ist er meist, so hat dieser Irrtum nach meiner
Ansicht verschiedene Ursachen.
Die erste ist, glaube ich, die: man erfährt von der Vorzeit nicht die
ganze Wahrheit. Das meiste, was jenen Zeiten Schande macht, wird
verheimlicht, während das, was ihnen Ruhm bringt, glänzend und
ausführlich dargestellt wird. Denn die meisten Schriftsteller huldigen
dem Glück der Sieger so sehr, daß sie, um deren Siege
herauszustreichen, nicht nur ihre wirklich tapferen Taten vergrößern,
sondern auch die der Feinde in einer Weise verherrlichen, daß jeder, der
später im Lande des Siegers oder des Besiegten geboren wird, alle
Ursache hat, jene Menschen und Zeiten anzustaunen und sie notwendig
aufs höchste loben und lieben muß. Da ferner der Haß aus Furcht oder
Neid entsteht, fallen bei der Vergangenheit die zwei Hauptursachen des
Hasses fort, denn Vergangenes kann weder schaden noch Neid erregen.
Das Gegenteil tritt bei allem ein, was man unter den Händen und Augen
hat. Bei genauer Kenntnis der Dinge bleibt einem keine Einzelheit
verborgen, und da man an ihnen neben dem Guten auch manches
Mißfällige wahrnimmt, muß man sie weit unter die alten stellen, sollten
sie auch viel mehr Lob und Ruhm verdienen. Eine Ausnahme bilden die
Künste, die so deutlich für sich sprechen, daß die Zeit ihrem wirklichen
Wert wenig hinzufügen oder nehmen kann. Ich rede also nur von Dingen,
die das Leben und die Sitten der Menschen betreffen, von welchen man
keine so deutlichen Zeugnisse hat. Ich wiederhole also, daß die
Gewohnheit zu loben und zu tadeln allerdings besteht, aber man braucht
sich dabei nicht immer zu irren. Manchmal muß man ja notwendig die
Wahrheit treffen, denn die menschlichen Dinge sind in steter Bewegung
834