Page 837 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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richtig beurteilen, da sie beide gleich gut gekannt und gesehen haben.
                Das könnten sie allerdings nur tun, wenn die Menschen in jedem
                Lebensalter das gleiche Urteil und die gleichen Neigungen hätten. Da

                sich diese aber ändern, können ihnen die Zeiten, die sich nicht ändern,
                doch nicht als die gleichen erscheinen, weil sie im Alter andre
                Begierden, andre Neigungen, andre Ansichten haben als in der Jugend.
                Mit dem Alter nehmen die Kräfte ab, Urteil und Einsicht aber zu. So
                müssen ihnen die Dinge, die in der Jugend erträglich und gut schienen,
                im Alter unerträglich und schlecht scheinen. Statt aber die Ursache
                davon in ihrem eignen Urteil zu suchen, klagen sie über die Zeiten.

                Überdies sind die menschlichen Begierden unersättlich, da die Natur uns
                alles begehren läßt, das Schicksal aber nur wenig zu erreichen erlaubt.
                Dadurch entsteht im Menschenherzen ewige Unzufriedenheit und
                Überdruß an allem, was man besitzt. So tadeln wir die Gegenwart, loben
                die Vergangenheit und wünschen die Zukunft herbei, ohne einen
                vernünftigen Grund.

                     Ich weiß daher nicht, ob man mich zu denen rechnen wird, die sich
                irren, wenn ich in diesen Erörterungen die alte Römerzeit zu sehr lobe
                und die unsre tadle. Wäre die damals herrschende Tugend und das jetzt
                herrschende Laster nicht sonnenklar, so würde ich mich behutsamer
                ausdrücken, um nicht in den Fehler zu verfallen, dessen ich andre zeihe.
                Da aber die Sache so offenbar ist, daß jeder sie sieht, werde ich dreist
                und offen aussprechen, was ich von dieser und jener Zeit halte, damit

                meine jungen Leser sich von dieser abwenden und sich zur Nachahmung
                jener vorbereiten, so oft ihnen das Schicksal Gelegenheit dazu gibt. Denn
                es ist Pflicht eines rechtschaffenen Mannes, das Gute, das er wegen der
                Ungunst der Zeiten und des Schicksals nicht ausführen konnte, andere zu
                lehren, damit unter vielen Fähigen einer, den der Himmel mehr liebt, es
                verwirklichen kann. Habe ich im ersten Buch von den inneren

                Angelegenheiten der römischen Republik gesprochen, so will ich in
                diesem Buche davon reden, was das römische Volk zur Vergrößerung
                seiner Herrschaft tat.






















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