Page 836 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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und steigen oder fallen. Eine Stadt oder ein Land, das von einem
                trefflichen Mann seine staatliche Ordnung erhielt, sieht man eine
                Zeitlang durch das Verdienst seines Gründers stets zum Bessern

                fortschreiten. Wer in einem solchen Lande geboren wird und die alten
                Zeiten mehr lobt als die neuen, der irrt sich aus den obengenannten
                Gründen. Wird er aber geboren, wenn der Staat oder das Land schon im
                Verfall ist, so irrt er sich nicht.
                     Wenn ich den Lauf der Welt bedenke, so finde ich, daß die Welt stets
                die gleiche war. Es gab immer soviel Böses wie Gutes, aber beides
                wechselte von Land zu Land. So wissen wir aus der Geschichte, daß die

                alten Reiche durch den Wechsel der Sitten bald stiegen, bald sanken; die
                Welt aber blieb die gleiche, nur mit dem Unterschied, daß die Tugend,
                die zuerst in Assyrien blühte, nachher nach Medien und Persien
                verpflanzt wurde, bis sie endlich nach Italien und Rom kam. Wenn auf
                das römische Reich kein Reich von längerer Dauer mehr folgte, in dem
                die Welt ihre ganze Tugend vereint hätte, so zeigt diese sich doch unter

                verschiedene tüchtige Völker verstreut. Derart war das fränkische Reich,
                das türkische, das des Sultans, Gemeint ist das Mameluckenreich in
                Ägypten. S. Buch I, Kap. 1. heute die Völker Deutschlands, und früher
                der sarazenische Stamm, der so Großes vollbracht, so viele Länder
                erobert und schließlich das oströmische Reich zerstört hat. In all diesen
                Ländern und bei all diesen Völkern herrschte nach dem Verfall des
                römischen Reiches jene Tugend, die man zurücksehnt und mit Recht

                preist, ja, man trifft sie zum Teil noch jetzt an. Wer in diesen Ländern
                geboren wird und die Vergangenheit über die Gegenwart stellt, mag sich
                irren. Wer aber in Griechenland und Italien geboren wird und in Italien
                nicht die Sitten der Nordländer angenommen oder in Griechenland Türke
                geworden ist, hat allen Anlaß, seine Zeit zu tadeln und die Vorzeit zu
                loben. Denn das Altertum ist in vieler Hinsicht bewunderungswürdig,

                jetzt aber findet er nichts, was die äußerste Erbärmlichkeit, Schmach und
                Schande wettmachte; denn es werden weder Religion noch Gesetze noch
                Kriegszucht beobachtet, und alles ist mit schmutzigen Lastern befleckt.
                Diese Laster sind um so abscheulicher, als man sie am häufigsten bei
                denen wahrnimmt, die auf den Richterstühlen sitzen, jedem Befehle
                erteilen und verehrt sein wollen. Kehren wir jedoch zu unserm
                Gegenstand zurück!

                     Ich sage, wenn die Menschen auch falsch darüber urteilen, ob die
                Gegenwart oder die Vergangenheit besser sei, weil sie vom Altertum
                keine so genaue Kenntnis besitzen wie von ihrer eignen Zeit, so sollten
                doch die alten Leute wenigstens die Zeit ihrer Jugend und ihres Alters





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