Page 860 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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sei die Volkszahl so angewachsen, daß sie sich nicht mehr ernähren
                konnten; die Fürsten hielten es also für nötig, daß ein Teil des Volkes
                auswanderte. Nach diesem Beschluß wurden zu Anführern der

                Fortziehenden zwei Könige gewählt, Bellovesus und Sicovesus, von
                denen Bellovesus nach Italien, der andre nach Spanien ging. Vielmehr
                nach den Donauländern. Bellovesus eroberte die Lombardei, und daraus
                entstand der erste Krieg der Römer mit den Galliern. Der zweite folgte
                auf den ersten punischen Krieg; in ihm töteten die Römer in der Schlacht
                zwischen Piombino und Pisa über 200 000 Gallier. Schlacht bei
                Telamon, 225 v. Chr. Der dritte entstand, als die Cimbern und Teutonen

                in Italien einfielen, mehrere römische Heere besiegten und schließlich
                von Marius geschlagen wurden. Bei Aquae Sextiae (102) und Vercellae
                (101 v. Chr.). Die Römer blieben also in diesen drei höchst gefährlichen
                Kriegen Sieger. Es bedurfte dazu aber keiner geringeren Tapferkeit als
                der ihren, denn als die römische Tapferkeit schwand und ihre Waffen die
                alte Kraft verloren, zerstörten ähnliche Völker, Goten, Vandalen und

                andre das römische Reich und eroberten das ganze Abendland.
                     Solche Völker werden, wie gesagt, durch die Not aus ihrer Heimat
                vertrieben. Diese Not entsteht durch Hunger, Krieg oder Unterdrückung,
                die sie im eignen Lande erleiden und die sie zur Auswanderung zwingen.
                Sind sie sehr zahlreich, so dringen sie mit Gewalt in fremde Länder,
                töten die Einwohner, nehmen ihnen ihre Güter weg, gründen ein neues
                Reich und geben dem Land einen andern Namen, wie Moses und die

                Völker, die das römische Reich eroberten. Denn die neuen Namen, die
                man in Italien und in andern Ländern findet, stammen von den neuen
                Eroberern. Die Lombardei hieß Gallia cisalpina, Frankreich Gallia
                transalpina und wird heute nach den Franken genannt, die es nachher
                eroberten. Slavonien hieß Illyrien, Ungarn Panonien, England
                Britannien, und so haben viele Länder ihre Namen geändert, deren

                Aufzählung hier zu weit führen würde. Auch Moses nannte den von ihm
                eroberten Teil Syriens Judäa. Wie gesagt werden solche Völker
                manchmal durch Krieg aus der Heimat vertrieben und gezwungen, sich
                neue Sitze zu suchen. Ich will dafür die Maurusier, einen alten syrischen
                Stamm, als Beispiel anführen. Als sie das Anrücken der Hebräer
                erfuhren und ihnen nicht widerstehen zu können glaubten, hielten sie es
                für besser, ihr Land zu verlassen und sich selbst zu retten, als um das

                Land zu retten, selbst unterzugehen. Sie brachen also mit Weib und Kind
                auf und zogen nach Afrika, wo sie sich niederließen und die alten
                Einwohner vertrieben. Während sie also ihr eignes Land nicht hatten
                verteidigen können, konnten sie ein fremdes erobern. Prokop, der den





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