Page 885 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Geschütz hilft ihm nichts, denn es ist ein Grundsatz, daß das Geschütz
gegen einen geschlossenen Ansturm nichts ausrichtet. Darum kann man
bei der Verteidigung der Städte das Ungestüm der Nordländer nicht
aufhalten, wohl aber die Stürme der Italiener, die nicht in geschlossenen
Haufen, sondern zerstreut zum Angriff gehen, eine Fechtart, die sie sehr
treffend Scharmützel nennen. Wer in solcher Unordnung und so lau eine
Bresche angreift, auf der Geschütz steht, geht in den sicheren Tod, und
gegen solche Angriffe ist das Geschütz von Nutzen. Wer aber in dichten
Haufen, wo einer den andern drängt, eine Bresche stürmt und nicht durch
Wall und Graben gehemmt wird, dringt überall ein und wird durch
Geschütze nicht aufgehalten. Fallen auch Leute dabei, so können es doch
nicht so viele sein, daß der Sieg dadurch verhindert wird.
Wie wahr dies ist, hat sich bei der Einnahme vieler italienischer
Städte durch die Nordländer gezeigt, besonders bei Brescia. Als sich
diese Stadt gegen die Franzosen empört hatte 1512 im Kriege der
»Heiligen Liga« gegen Frankreich. Vgl. Buch III, Kap. 44. und die
Zitadelle sich noch für den König von Frankreich hielt, sperrten die
Venezianer zur Verhinderung von Ausfällen aus der Zitadelle die ganze
Straße, die von dort nach der Stadt herabführte, mit Geschütz und
stellten Kanonen in Front und Flanke und an jedem geeigneten Punkt
auf. Gaston de Foix aber machte sich nichts daraus, ließ seine Reiterei
absitzen, brach mitten durch und besetzte die Stadt, und man hat nicht
gehört, daß er dabei erhebliche Verluste gehabt hätte. Wer sich also in
einer kleinen Stadt verteidigt und, wenn die Mauern niedergeschossen
sind, keinen Raum hat, sich hinter Wall und Graben zurückzuziehen,
sondern sich auf das Geschütz verlassen muß, ist sofort verloren.
Verteidigt man eine große Stadt und hat Raum genug,
Verteidigungsabschnitte anzulegen, so ist das Geschütz für den Belagerer
trotzdem ungleich nützlicher als für den Belagerten. Erstens muß das
Geschütz, wenn es dem Belagerer schaden soll, hoch stehen; denn steht
es zu ebener Erde, so wird der Feind durch jeden kleinen Damm, jede
Brustwehr, die er aufwirft, so gedeckt, daß man ihm nicht schaden kann.
Stellt man aber das Geschütz oben auf die Mauer oder sonstwie hoch
auf, so entstehen zwei Schwierigkeiten. Erstens kann man keine so
schweren Geschütze da hinaufbringen wie der Belagerer, weil man die
großen Stücke auf engem Raum nicht handhaben kann, und könnte man
sie auch hinaufbringen, so könnte man doch keine so starken und
sicheren Brustwehren anbringen wie der Belagerer, der auf dem
Erdboden steht und alle Bequemlichkeit und genügenden Raum dazu hat.
Der Verteidiger vermag also kein Geschütz auf hohen Punkten
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