Page 887 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Was aber das zweite betrifft, daß man seit der Erfindung der
Feuerwaffen seine persönliche Tapferkeit nicht mehr so zeigen kann, wie
im Altertum, so gebe ich allerdings zu, daß der einzelne Mann mehr
Gefahr läuft als früher, z. B. beim Ersteigen einer Stadt auf Leitern oder
bei ähnlichen Angriffen, wo nicht geschlossene Glieder auftreten,
sondern jeder für sich zu fechten hat. Es ist auch richtig, daß die
Feldherren und Heerführer mehr der Todesgefahr ausgesetzt sind als
früher, denn das Geschütz erreicht sie überall, und es hilft ihnen nichts
mehr, im letzten Treffen zu halten und von den tapfersten Leuten
umgeben zu sein. Gleichwohl zeigt die Erfahrung, daß beide Gefahren
selten besondere Verluste herbeiführen. Denn wohlbefestigte Plätze
ersteigt man nicht mit Leitern und stürmt sie auch nicht mit geringen
Kräften, sondern man muß sie wie früher förmlich belagern. Wird aber
eine Stadt wirklich mit Sturm genommen, so ist die Gefahr jetzt nicht
viel größer, denn früher hatten die Verteidiger auch Schießwerkzeuge,
die zwar nicht solche heftige Wirkung hatten, aber im Menschenmorden
auch ihre Dienste taten. Was den Tod von Feldherren und Heerführern
betrifft, so sind in den letzten 24 Kriegsjahren in Italien weniger gefallen
als in einem Zeitraum von 10 Jahren bei den Alten. Außer dem Grafen
Ludwig von Mirandola, der bei Ferrara fiel, 1509 fiel der päpstliche
Feldhauptmann Lodovico Pico della Mirandola bei der Verteidigung
Ferraras gegen den venezianischen Admiral Angelo Trevisan durch eine
Kanonenkugel. als die Venezianer es vor einigen Jahren angriffen, und
dem Herzog von Nemours, der bei Cerignola blieb (1503), wurde kein
Feldherr durch eine Stückkugel getötet, denn Gaston de Foix fiel bei
Ravenna (1512) durch einen Pikenstich, nicht durch Feuer. Wenn also
die Menschen keine persönliche Tapferkeit zeigen, so kommt das nicht
von der Erfindung der Feuerwaffen, sondern von der schlechten
Einrichtung und der Erbärmlichkeit unsrer Heere, die im Ganzen feig
sind und daher auch im Einzelnen nicht tapfer sein können.
Ich komme nun zu der dritten Ansicht, wonach es nicht mehr zum
Kampf mit der blanken Waffe kommen kann und der Krieg sich ganz auf
Geschützkampf beschränken wird. Diese Ansicht ist ganz falsch und
wird stets von allen für falsch gehalten, die in der Fechtweise das große
Vorbild der Alten befolgen wollen. Denn wer ein Heer kriegstüchtig
machen will, muß seine Leute durch Scheingefechte oder wirkliche
Kämpfe daran gewöhnen, dem Feind auf den Leib zu rücken und mit
ihm handgemein zu werden, und da muß er sich mehr auf das Fußvolk
als auf die Reiterei verlassen; die Gründe sollen unten dargelegt werden.
Verläßt er sich aber auf das Fußvolk und die oben angegebene
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