Page 938 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Erstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Soll ein Staat oder eine Religion lange bestehen, so muß man sie
häufig zu ihrem Ursprung zurückführen.
Es ist eine ausgemachte Wahrheit, daß alle Wesen auf Erden ihre
Lebensgrenze haben. Aber nur die vollenden den ihnen vom Himmel
vorgezeichneten Lauf, die ihren Körper nicht in Unordnung bringen,
sondern ihn in Ordnung halten, so daß er sich nicht verändert, oder, wenn
dies geschieht, nur zu seinem Heil und nicht zum Schaden. Da ich hier
nur von zusammengesetzten Körpern Der Begriff des Staatskörpers von
Polybios, XI, 25, 2 ff. rede, wie es die Staaten und
Religionsgemeinschaften sind, so behaupte ich, daß ihnen nur die
Veränderungen zum Heil gereichen, die sie zu ihrem Ursprung
zurückführen. Darum sind die am besten geordnet und von längster
Dauer, die sich vermöge ihrer Einrichtungen häufig erneuern können,
oder die ein äußerer Zufall zur Erneuerung führt. Es ist klarer als der
Tag, daß diese Körper ohne Erneuerung keine Dauer haben. Das Mittel
zu ihrer Erneuerung ist, wie gesagt, ihre Zurückführung auf ihren
Ursprung; denn zu Anfang müssen alle Religionen, Republiken und
Königreiche notwendig etwas Gutes gehabt haben, kraft dessen sie ihr
ursprüngliches Ansehen und ihr erstes Wachstum wiedererlangen. Nach
Sallust, Catilina, II, und Aristoteles, Politik, VIII, 7, 16 Dies Gute
verdirbt mit der Zeit; tritt also nichts ein, wodurch es wieder hergestellt
wird, so muß der Körper notwendig sterben. Die Ärzte sagen vom
menschlichen Körper: Quod quotidie aggregatur aliquid, quod
quandoque indiget curatione. (Daß sich täglich etwas ansetzt, das
manchmal der Heilung bedarf.)
Die Rückkehr zum Ursprung geschieht bei Republiken durch ein
äußeres Unglück oder durch innere Klugheit. Was das erste betrifft, so
sieht man, wie nötig für Rom die Eroberung durch die Gallier war, wenn
es wiedergeboren werden und durch die Wiedergeburt neues Leben und
neue Kraft erhalten sollte, wenn die Religion und die Gerechtigkeit, die
man beide zu entweihen begann, wieder geachtet werden sollten. Das
sieht man deutlich aus der Geschichte des Livius, denn er zeigt, daß die
Römer beim Ausmarsch des Heeres gegen die Gallier und bei der Wahl
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