Page 941 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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so wäre sie ganz erloschen. Durch ihre Armut aber und ihre
Lebensführung nach dem Beispiel Christi erweckten sie sie wieder in
den Menschenherzen, in denen sie bereits tot war, und der Kraft ihrer
neuen Orden verdanken es die Prälaten und Kirchenhäupter, daß ihr
schlimmer Wandel sie nicht zugrunde richtet. Sie leben noch jetzt in
Armut und haben durch Beichte und Predigt solches Ansehen beim
Volke, daß es sich von ihnen überzeugen läßt, es sei böse, Böses von den
Bösen zu reden, aber gut, ihnen gehorsam zu leben und die Strafe für
ihre Sünden Gott zu überlassen. Jene aber leben so arg wie möglich, weil
sie die Strafe, die sie nicht vor Augen sehen, nicht fürchten und nicht an
sie glauben. So hat also diese Erneuerung unsre Religion erhalten und
erhält sie noch.
Auch Königreiche bedürfen der Erneuerung und der Zurückführung
der Gesetze zu ihrem Ursprung. Die gute Wirkung davon sieht man in
Frankreich, das mehr unter Gesetz und Ordnung lebt als irgendein Reich.
Die Erhalter dieser Gesetze und Ordnungen sind die Parlamente,
besonders das von Paris, das sie jedesmal erneuert, wenn es etwas über
einen Großen des Reiches verhängt und Urteile gegen den König selbst
spricht. Bis jetzt hat es sich dadurch erhalten, daß es ein strenger Richter
gegen den Adel war. Sobald es aber etwas ungestraft hingehen ließe und
die Verbrechen sich häuften, wäre die Bestrafung ohne Zweifel mit
großen Wirren verbunden, oder das Reich zerfiele.
Ich ziehe also den Schluß, daß für ein Gemeinwesen, sei es eine
Religionsgemeinschaft, eine Republik oder ein Königreich, nichts
notwendiger ist, als ihm das Ansehen wiederzugeben, das es
ursprünglich hatte. Und zwar muß man dahin streben, daß entweder gute
Einrichtungen oder tugendhafte Männer dies herbeiführen, nicht eine
fremde Macht. Denn obschon diese häufig die beste Arznei ist, wie in
Rom, so ist sie wegen ihrer Gefährlichkeit doch in keiner Weise
erwünscht.
Um aber jedermann zu zeigen, wie groß Rom durch die Taten
einzelner Männer wurde, und wieviel Gutes die Stadt durch sie erfuhr,
will ich sie jetzt erzählen und erörtern. Damit soll das dritte Buch und
der letzte Teil dieser ersten Dekade seinen Abschluß finden. Schon die
Taten der Könige waren groß und denkwürdig; da die Geschichte sie
aber schon ausführlich berichtet, will ich sie übergehen, bis auf einige
Handlungen, die ihren Privatvorteil betrafen, und mit Brutus beginnen,
dem Vater der römischen Freiheit.
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