Page 946 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Viertes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Kein Fürst ist seiner Herrschaft sicher, solange die am Leben sind,
denen sie genommen wurde.
Die Ermordung des Tarquinius Priscus durch die Söhne des Ancus
Marcius und die des Servius Tullius durch Tarquinius Superbus zeigt,
wie schwierig und gefährlich es ist, jemand die Herrschaft zu rauben und
ihn am Leben zu lassen, selbst wenn man ihn durch Wohltaten zu
gewinnen sucht. Wie man sieht, ließ sich Tarquinius Priscus dadurch
täuschen, daß er die Herrschaft rechtmäßig zu besitzen glaubte, da sie
ihm vom Volk übertragen und vom Senate bestätigt war. Er glaubte, der
Haß der Söhne des Ancus könne nicht so weit gehen, daß sie sich nicht
mit dem zufrieden gäben, womit ganz Rom zufrieden war. Und Servius
Tullius täuschte sich, als er die Söhne des Tarquinius durch immer neue
Wohltaten zu gewinnen wähnte. Das Beispiel des Tarquinius Priscus
kann jeden Fürsten lehren, daß er seiner Herrschaft nie sicher ist, solange
die noch am Leben sind, denen sie genommen wurde. Und das Beispiel
des Servius Tullius kann jeden Machthaber daran erinnern, daß alte
Unbill nie durch neue Wohltaten ausgelöscht wird, und zwar um so
weniger, je geringer die neue Wohltat im Verhältnis zu der alten Unbill
ist. Sicherlich war es von Servius Tullius unklug, zu glauben, die Söhne
des Tarquinius würden sich damit bescheiden, die Schwiegersöhne des
Mannes zu sein, dessen Könige zu sein sie sich berechtigt glaubten. Die
Herrschaft ist so groß, daß sie nicht nur die ergreift, die eine
Anwartschaft auf die Herrschaft haben, sondern auch die, die sie nicht
haben. So trieb die Gattin des jüngeren Tarquinius, die Tochter des
Servius, von dieser Wut gestachelt, aller kindlichen Liebe zuwider den
Gatten an, ihrem Vater Herrschaft und Leben zu nehmen. So viel höher
schätzte sie es, Königin als Königstochter zu sein! Wenn aber Tarquinius
Priscus und Servius Tullius die Herrschaft verloren, weil sie sich vor
denen nicht zu sichern wußten, denen sie sie geraubt hatten, so verlor
Tarquinius Superbus den Thron, weil er die Einrichtungen der alten
Könige umstieß, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird.
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