Page 942 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Zweites Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                          Wie weise es ist, sich zu rechter Zeit töricht zu stellen.


                Nie war ein Mann so klug, noch wurde er wegen einer hervorragenden
                Handlung für so weise gehalten, wie Junius Brutus wegen seiner
                gespielten Torheit. Livius gibt zwar nur einen Grund seiner Verstellung
                an, nämlich den, in Sicherheit zu leben und sich sein Erbe zu erhalten.
                Betrachtet man jedoch sein ganzes Verhalten, so läßt sich glauben, daß er

                sich auch verstellte, um weniger beobachtet zu werden, die Könige
                leichter zu stürzen und sein Vaterland bei der ersten Gelegenheit befreien
                zu können. Daß dies sein Plan war, ergibt sich erstens aus seiner
                Auslegung des Delphischen Orakels, als er tat, als ob er fiele, um die
                Erde zu küssen, in der Meinung, die Götter dadurch seinem Vorhaben

                günstig zu stimmen. Vgl. Livius I, 56: Zwei Söhne des Königs, bei
                denen sich Brutus befand, befragten das Delphische Orakel, an welchen
                von ihnen die Herrschaft fallen würde. Das Orakel antwortete: An den,
                der zuerst die Mutter küssen wird und zweitens, als er nach dem Tode
                der Lucretia von Vater, Gatten und andern Verwandten der erste war, der
                den Dolch aus der Wunde zog und die Umstehenden schwören ließ,
                künftig nie mehr einen König in Rom zu dulden.

                     Aus seinem Beispiel müssen alle lernen, die mit ihrem Fürsten
                unzufrieden sind. Sie müssen zunächst ihre Kräfte wägen und messen,
                und wenn sie stark genug sind, sich als seine Feinde zu erklären und ihn
                öffentlich zu bekriegen, diesen Weg als den minder gefährlichen und
                ehrenvolleren einschlagen. Reichen aber ihre Kräfte zum offenen Kriege
                nicht aus, so müssen sie sich befleißigen, seine Freundschaft zu erlangen,

                und zu diesem Zweck alle Wege einschlagen, die ihnen nötig scheinen,
                sich seinen Neigungen anbequemen und sich an allem ergötzen, was ihm
                Vergnügen macht. Diese Vertrautheit verschafft dir zunächst Sicherheit,
                sodann läßt sie dich das Glück des Fürsten ohne alle Gefahr mitgenießen
                und gibt dir zugleich bequeme Gelegenheit, dein Gelüst zu befriedigen.
                Allerdings sagen einige, man dürfe den Fürsten nie so nahe stehen, daß
                ihr Sturz dich mit begraben kann, noch so fern, daß du dich bei ihrem

                Sturze nicht zeitig genug auf ihren Trümmern erheben kannst, und dieser
                Mittelweg wäre auch der richtigste, wenn man ihn immer einhalten





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