Page 947 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 947
Fünftes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Wodurch ein König sein ererbtes Reich verliert.
Nachdem Tarquinius Superbus den Servius Tullius getötet hatte, der
keine Erben zurückließ, war er im sichern Besitz der Herrschaft und
hatte nichts von dem zu befürchten, was seine Vorgänger gestürzt hatte.
Die Art, wie er auf den Thron gelangte, war zwar ungesetzlich und
verhaßt, trotzdem hätte man ihn ertragen, und Senat und Volk hätten sich
nicht gegen ihn empört, noch ihm die Herrschaft entrissen, hätte er die
alten Einrichtungen der früheren Könige belassen. Er wurde also nicht
deshalb vertrieben, weil sein Sohn Sextus die Lucretia schändete,
sondern weil er die Reichsgesetze übertrat und tyrannisch regierte, weil
er dem Senat alles Ansehen nahm und es an sich riß, weil er die
Geschäfte, die zur Zufriedenheit des Senats an öffentlichen Orten
erledigt wurden, in seinem Palast erledigte und dadurch Haß und Neid
gegen sich erweckte. Auf diese Weise brachte er Rom binnen kurzem um
alle Freiheit, die es unter den früheren Königen behauptet hatte. Aber er
ließ es nicht dabei bewenden, sich den Senat zum Feinde zu machen, er
brachte auch das Volk gegen sich auf, indem er es mit harter Fronarbeit
quälte, die ihm seine Vorgänger nie zugemutet hatten. Indem er so Rom
mit Proben von Härte und Hochmut erfüllte, machte er die Herzen aller
Römer zum Aufruhr geneigt, und man wartete nur auf eine Gelegenheit.
Wäre also auch der Vorfall mit Lucretia nicht eingetreten, so wäre doch
bei irgendeinem andern Anlaß das gleiche geschehen. Hätte aber
Tarquinius wie die andern Könige regiert und sein Sohn Sextus hätte
jenes Verbrechen begangen, so hätten Brutus und Collatinus ihn und
nicht das Volk um Rache an Sextus angerufen.
Mögen daraus die Fürsten lernen, daß sie mit der Stunde ihre
Herrschaft zu verlieren beginnen, wo sie die Gesetze, die alten
Gebräuche und Gewohnheiten zu übertreten anfangen, unter denen das
Volk lange gelebt hat. Und wenn sie nach dem Verlust ihrer Herrschaft
jemals so klug würden, einzusehen, wie leicht die Erhaltung eines
Reiches ist, wenn man sich vernünftig benimmt, so müßte sie der Verlust
noch weit mehr schmerzen, und sie selbst müßten sich weit härter
bestrafen als andre sie. Denn es ist viel leichter, sich die Liebe der Guten
946