Page 944 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 944
Drittes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Zur Erhaltung der neuerrungenen Freiheit ist es nötig, die Söhne
des Brutus zu töten.
Ebenso nötig wie nützlich war die Strenge des Brutus bei der Erhaltung
der Freiheit, die er Rom wiedergegeben hatte. Diese Strenge bietet das in
der Geschichte seltene Beispiel, daß ein Vater über seine Söhne zu
Gericht sitzt und sie nicht allein verurteilt, sondern auch ihrer
Hinrichtung beiwohnt. Wer die alte Geschichte liest, wird stets finden,
daß nach einer Staatsumwälzung, sei es, daß eine Republik in eine
absolute Monarchie verwandelt wird oder umgekehrt, ein denkwürdiges
Exempel an den Feinden der neuen Ordnung stattfinden muß. Wer sich
zum Alleinherrscher aufwirft und den Brutus nicht tötet, oder wer einen
Freistaat gründet und die Söhne des Brutus nicht hinrichtet, wird sich
nicht lange halten. Da ich jedoch diesen Gegenstand oben S. Buch I,
Kap. 16. weitläufig erörtert habe, so beziehe ich mich auf das dort
Gesagte. Nur ein denkwürdiges Beispiel unserer Tage und aus unserer
Geschichte will ich hier anführen.
Piero Soderini S. Lebenslauf, 1502, und Buch III, Kap. 9 und 30.
Unter den Söhnen des Brutus sind hier die Anhänger der vertriebenen
Medici gemeint. glaubte das Verlangen der Söhne des Brutus nach der
Rückkehr der alten Regierung durch Geduld und Güte überwinden zu
können, aber er täuschte sich. Obwohl er als kluger Mann jene
Notwendigkeit einsah und das Schicksal und der Ehrgeiz seiner Gegner
ihm Gelegenheit gab, sie zu vernichten, konnte er sich doch niemals
dazu aufraffen. Denn er wähnte nicht nur, die böse Gesinnung durch
Geduld und Güte zu ersticken und durch Wohltaten gegen diesen und
jenen ihre Feindschaft zu brechen, sondern er war auch der Ansicht und
vertraute sie seinen Freunden oft an, daß er zu kraftvollem Durchgreifen
und zur Unterdrückung seiner Gegner ungesetzliche Gewalt brauchen
und die Gesetze bürgerlicher Gleichheit umstoßen müsse. Das aber hätte,
auch wenn er nachher nicht tyrannisch schaltete, die Menge so in Furcht
gesetzt, daß sie nach seinem Tode nie mehr einen Gonfalonier auf
Lebenszeit gewählt hätte, ein Amt, dessen Erhaltung und Stärkung er für
nützlich hielt. Diese Rücksicht war gut und weise, allein man darf
943