Page 39 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Das Inertialsystem vor dem Forum der Naturforschung.  27

     da ihr Mac G-regor in dem oben wiedergegebenen Abschnitt seiner
     Abhandlung   vollauf  gerecht geworden  ist^^).  Dass  eine  abstract-
     mathematische Formulirung des Beharrungsgesetzes, wie die von mir
     verfochtene, sich sehr dazu eignet, um zugleich mit einer rein physi-
     kaHschen,  wie  der Mach'schen,   der Dynamik   zur  Grrundlage  zu
     dienen, dürfte Mach, nach seinen bisherigen Auslassungen zu schließen,
     wohl nicht in Abrede stellen.  Beide Formulirungsweisen müssen sich
     meiner Ansicht nach gerade in derselben "Weise, wie  es überhaupt
     Empirie und Eechnung thun, gegenseitig ergänzen, wenn das Kirch-
     hoff 'sehe Ziel, wie  es auch Mach in ganz ähnhcher Formulirung
     der  analytischen  Mechanik  vorzeichnet,  nämlich  die  Bewegungs-
     erscheinungen vollständig und auf die einfachste "Weise zu beschreiben,
     erreicht werden  soll.  In diesem Sinne wäre der Trägheitssatz  (in der
     von mir befürworteten Form) etwa ähnlich anzusehen, wie das Euklidi-
     sche Parallelenaxiom;  so gut es über das letztere hinaus eine nicht-
     eukhdische Geometrie gibt, ist auch eine nicht-inertiale Dynamik denk-
     bar, ja sicherlich sogar empfehlenswerth, eine solche weiter auszubilden.
     So wenig aber einstweilen das Parallelenaxiom zum alten Eisen ge-
     worfen werden kann, ebensowenig wird der über das bloß Conven-
     tionelle hinausgebende inductiv begründete Kern des G-alilei-
     Newton 'sehen   Gesetzes  aus  der Dynamik   ausgeschieden werden
     können.   Auch H. Hertz, wohl der     genialste und  einflussreichste
     "V^ertreter der Anschauung, dass die autoritative Alleinherrschaft der
     Newton 'sehen Grundlegung    fallen müsse, kann den Trägheitssatz
     nicht entbehren.
         Die im   Jahre  1890  erschienene  »Allgemeine Mechanik«   von
     E. Budde^) nimmt, wie bei einem gedrängten Compendium begreifhch,
      auf die neueren, den Bewegungsbegriff berührenden Einzelforschungen
     keinerlei Bezug.  Gleichwohl darf  sie in diesem Zusammenhang be-
      sprochen werden; denn  sie legt ein erfreuliches Zeugniss dafür ab,
      dass  die moderne Mechanik,   offenbar  nicht zum wenigsten  unter
      Mach's  Einfluss, immer  allgemeiner  das Bedürfniss  fühlt,  selbst
      Grundrissen und Lehi'büchem   eine zwar kurze,  aber  zu weiterem
      Nachdenken anregende Besprechung der fundamentalen Fragen ein-
      zuverleiben.  Natürlich darf der Leser in dem Rahmen eines "Werkes,
      wie  es Budde zu schreiben unternommen,    eine nach allen Seiten
      erschöpfende und das Für und Wider der gemachten Yerbesserungs-
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