Page 55 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Das Inertialsystem vor dem Forum der Naturforscliung.  43
    legen, von jedem mystischen Dunkel und von jedem Cirkel vollkommen
    frei  ist. Und darin gebe ich Mach und Hertz s^) vollständig Recht,
    dass die Theorie der Planetenbewegungen auf absehbare Zeit mit
    der Zugrundelegung des heliocentrischen Fixstemsystems und     des
    Drehungswinkels  der Erde   sich wird begnügen  dürfen.  Denn  die
     Thatsache, dass ein bedeutender Theil der Fixsterne gegen die übrigen
    in Abstandsveränderungen begriffen  ist,  fällt neben den doch einmal
    unvermeidlichen Beobachtungsfehlem und den rechnerischen »Ver-
    nachlässigungen«, welche in die Bestimmung der Planetenörter ein-
    gehen,  nicht erheblich ins Gewicht.  Anders aber gestaltet sich die
    Sache, wenn wir anfangen,    wie  die Astronomie  als beobachtende
    DiscipHn schon  seit bald zwei Jahrhunderten angefangen hat, die
    Bewegungen der Fixsterne und die Bewegung des Sonnen-
    systemes als eines Ganzen zu behandeln.
       Wird   die, dem Vorangegangenen    zufolge für  die Theorie der
    Planetenbewegung vollständig gelungene,  Elimination des metaphy-
    sischen Kraftbegriffes auch bei späteren stellardynamischen Unter-
    suchungen durchführbar sein ? Und wird sich auch hier der gerügte
    Cirkel umgehen lassen ?       Obwohl wir uns bei dieser Gelegenheit
    auf  ein  in der Hauptsache noch überaus wenig betretenes Gebiet
    wagen müssen,   soll doch der Versuch gemacht werden, auf beide
    Fragen eine möghchst klare und bestimmte Antwort zu ertheilen.
       Vorausgeschickt sei die Bemerkung, dass eine Dynamik der Fix-
    stembewegungen, wenn man von der Theorie der mehrfachen Sterne
     Doppelstenie) und der ihnen zuzurechnenden veränderHchen Sterne
    des Algoltj-pus absieht, bis jetzt meines Wissens noch gar nicht ver-
    sucht worden  ist.  Alle von der Astronomie gemachten Aussagen
    über die sogenannten »wahren Eigenbewegungen« der Fixsterne und
    über  die sogenannte  »absolute Translation«  der Sonne  sind rein
    phoronomischen Charakters;     sie betreffen lediglich Geschwindig-
    keiten, und niemals Beschleunigungen. Wenn man beispielsweise das
    Raumsystem näher angeben   soll, auf welches sich die von den Astro-
    nomen angenommene    »absolute Translation«  der Sonne  bezieht,  so
    führt eine sorgfältige Erwägung aller angewandten Methoden zu dem
    merkwürdigen Ergebniss,   dass  dieses Eaumsystem mit Newton's
    »absolutem Raum«    oder, um  in unserer weniger geheimnissvollen
    Terminologie zu  reden,  dass es mit dem  barycentrischen Inertial-
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