Page 60 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 60
4g Ludwig Lange.
Hiermit muss ich dieses äußert interessante Wissensgebiet der
Stellarastronomie verlassen.
Frege, bei dessen Studie zum Bewegungsbegriff wir zu Beginn
des vorstehenden Excurses stehen geblieben waren, sagt an einer
späteren Stelle : »Was nun die Frage nach der Realität der Bewegung
betrifft, so droht sie, wie mir scheint, in einen Wortstreit auszuarten« ^*^).
Es könne sich, so meint er, »nur darum handeln, ob der Unterschied
zwischen beschleunigter und nicht beschleunigter Bewegung, oder,
wie Lange sagt, zwischen Inertialdrehung und Inertialruhe« ^') real
ist. — Im Anschluss an diese und die ihnen nachfolgenden Erörte-
rungen Frege 's dürfte die kurze Bemerkung genügen, dass ich die
Wirklichkeit fObjectivität) eines Unterschiedes zwischen bloß phoro-
nomischer Drehung und Inertialdrehung nicht nur nicht bestritten,
sondern sogar recht energisch betont habe. Es ist aber etwas ganz
anderes, ob man jenen Unterschied als objectiv ansieht, oder ob
man die Inertialdrehung für eine »wirkliche« Bewegung hält, die rein
phoronomische Drehung dagegen — z. B. die tägliche Umdrehung
des Firmaments — als nur »scheinbar« betrachtet. Soviel ich übrigens
Frege verstehe, scheint er weit entfernt zu sein, dieser letzteren An-
schauungsweise beizutreten. Mir scheint jedenfalls die Frage nach
der »wirklichen« und »scheinbaren« Bewegung, und die Frage nach
der Angemessenheit dieser Ausdrücke durchaus nicht auf einen
bloßen Wortstreit hinauszulaufen. Die von mir (und mehreren
anderen Autoren) vertretene Anschauung stellt als oberstes Princip
die Relativität der Bewegung auf; sie leugnet damit aber nicht die
Objectivität oder Realität der Bewegung als Distanzänderung, sie
sagt vielmehr ganz im Gegentheil, dass jede Ortsveränderung
sie Hest aus den vielen Arten der Bewegung
eine reale Bewegung sei ;
eine bestimmte, nämlich die Inertialdrehung, nicht in dem Sinne aus,
als ob sie reeller sei denn andere bloß phoronomische Drehungen,
sondern nur als einen methodologisch-dynamisch vor anderen auszu-
zeichnenden Fall, der bei der analytischen Behandlung der Bewegungs-
vorgänge eine besondere grundlegende Beachtung verdient. Frege
selbst vindicirt mir wenige Seiten später den »Ruhm«, die GrenzHnie
zwischen dem Inertiell-Ruhigen und Nicht-Inertiellruhigen »zuerst
deutHch gesehen zu haben« ^^j^
Im Jahre 1891, also annähernd gleichzeitig mit Frege 's Aufsatz,