Page 57 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Das Inertialsystein vor dem Forum der Naturforschung.  45

     von allem Anfang an die sein: "Wie lässt sich ein zur dynamischen
     Behandlung der Fixstembewegungen geeignetes Bezugssystem prak-
     tisch festlegen?
        Ehe wir zur Beantwortung dieser Frage übergehen, sei mir folgende
     Vorbemerkung   gestattet.  Es  ist eine eigenthümliche Beobachtung,
     die man in  allen Zweigen des Naturerkennens machen kann, dass
     die Aufgaben, welche  die Natur dem menschlichen Verstände dar-
     bietet, nicht durchweg die allgemeinste, complicirteste Form, sondern
     zum  Theil  wenigstens  besondere,  die Berechnung  vereinfachende
     Formen annehmen.    So wäre  z. B. das Trägheitsgesetz wahrscheinlich
     noch  heute  unentdeckt, wenn  nicht  für beschränkte  irdische Be-
     wegungen der Erdraum mit hinreichender Genauigkeit als ein inertial-
     ruhiger Raum betrachtet werden dürfte.  Ein  ferneres Beispiel: das
     Bewegungsproblem für   drei annähernd gleich große gravitirende
     Massen (Dreikörperproblem)  ist bis heute analytisch nicht  als gelöst
     zu erachten; nur der Umstand, dass in unserem Sonnencomplex eine
     Masse  vor  allen  anderen  weitaus  präponderirt,  setzte  Kepler,
     Newton, Laplace und       ihre Nachfolger  in  den Stand,  die Be-
     wegungen des Sonnensystems in die bekannten Formeln zu bringen.
        Analog vereinfachende Umstände dürften nun auch für den Fix-
     stemcomplex  zutreffen, wenn auch   solche von wesentlich anderem
     Charakter.  Man kann nämlich mit großer "Wahrscheinlichkeit an-
     nehmen: Dass   die Entfernung der meisten Fixsterne von einander
     eine im Vergleich zu ihrer eigenen Größe und Masse so ungeheuere
     ist, dass  sie einander auf Jahrhunderte,  vielleicht selbst auf Jahr-
     tausende hinaus keine merklichen Beschleunigungen in Bezug auf das
     barycentrische Inertialsystem des Complexes  ertheilen,  vielmehr  so
     gut wie  geradhnig und gleichförmig gegen   dasselbe  fortschreiten.
     Bis  zu  welchen Zeitepochen hin  diese vereinfachende Approxima-
     tion ausgedehnt werden  darf, dies muss natürlich  eine, mindestens
     über mehrere Jahrzehnte fortzusetzende, Erfahrung erst lehren; die
     bisher angestellten Beobachtungen dürften darüber ebenso wenig ent-
     scheiden, als etwa ein kurzes annähernd geradlinig und gleichförmig
     durchlaufenes Stück der Neptunbahn gestattet, die Bahnelemente dieses
     Planeten zu ermitteln.  Unsere Annahme trägt m.  e. "W. den Stempel
     einer vorläufigen, unter den Vorbehalt jederzeit möglicher Correction
     gestellten Hypothese, wie die Astronomie solche gar nicht selten macht.
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