Page 56 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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44 Ludwig Lange.
System des Universums phoronomisch durchaus nicht zusammenzufallen
braucht ^^). Es deutlich zu definiren, hält in Folge der ungemein
verwickelten Beschaffenheit der zu ihm führenden Rechnungen außer-
ordentlich schwer; am nächsten dürfte man der Wahrheit kommen,
wenn man es als dasjenige Raumsystem kennzeichnet, in Bezug auf
welches die Summe der Greschwindigkeitsquadrate aller — oder ge-
wisser herausgenommener — Glieder des Fixsterncomplexes jederzeit
ein Minimum darstellt. Wenigstens dürfte ein derart definirtes
Raumsystem dem Ideal, welches den bisherigen Errechnern der
Sonnentranslation vorzuschweben scheint, noch am nächsten kommen.
Dass von einer Bezugnahme auf ein mit dem Schwerpunkt des Uni-
versums fest verbundenes und, dynamisch betrachtet, inertiales System
gar nicht die Rede sein kann, außer höchstens durch reinen Zufall,
dies folgt schon aus dem Umstände, dass die bis heute gänzlich un-
bekannten Massen der Fixsterne ^6) in die Rechnung natürlich gar
nicht einbezogen werden konnten. Aus allem Vorangegangenen folgt
nun, dass zu demjenigen, was die Planetarastronomie als »wahre Be-
wegungen« der Planeten bezeichnet (nämlich dynamisch wohl charakte-
risirte Revolutionen gegen das heliocentrische Inertialsystem), die so-
genannten »wahren Eigenbewegungen« der Fixsterne und der Sonne
schlechterdings nicht die geringste begriffliche Analogie darbieten;
der Gleichklang des Wortes »wahr« ist das einzige »tertium compara-
tionis«, und noch dazu ein sehr gefährliches, wie die historische That-
sache beweist, dass ein Astronom von dem Range Argelander's
auf jenen Gleichklang ein schon aus logischen Gründen ganz hin-
fälliges Argument stützen konnte.
Die Behauptungen des vorigen Absatzes eingehender zu begründen,
darf ich mir hier wohl schon um deswillen sparen, weil der erste
Anhang meines »Bewegungsbegriffes« sich recht ausführlich über den
Gegenstand verbreitet. Die Stichhaltigkeit meiner Kritik ist inzwischen
nicht nur von G. Frege, sondern auch von H. Seeliger, von letz-
terem wenigstens in den Hauptpunkten, anerkannt worden 8^).
Wenn es nun nach dem Vorangegangenen auch feststeht, dass
bislang zu einer Dynamik der Fixsterneigenbewegungen noch nicht
einmal die ersten Schritte unternommen worden sind, so ist doch die
Hoffnung, dass es gelingen werde, eine solche zu begründen, keines-
wegs aufzugeben. Die Grundfrage muss bei derartigen Untersuchungen