Page 46 - Brot backen - wie es nur noch wenige können
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Bevor  Gesetze  Arbeitszeiten,  Ruhepausen  und  Urlaubsansprüche  regelten,  sorgten  religiöse
  Vorschriften, der Kodex überlieferter Verhaltensweisen und brauchtümliche Rechte für Sicherheit im
  sozialen  Miteinander.  Wenn  Kinder  oder  Arme  an  bestimmten  Tagen  von  Tür  zu  Tür  zogen  und
  Essbares erbaten – die Volkskunde spricht von Umgangs- und Heischbräuchen –, war dies eine Form

  der Bettelei, derer sich keiner schämen musste. Wer anklopfte, hatte ein Recht auf Zuwendung. Das
  „Vergelt’s Gott“, mit dem die Beschenkten sich bedankten, war mehr als eine bloße Floskel: Wer gab,
  handelte gottgefällig und konnte mit Glück und Segen für Haus und Hof rechnen. Geizige Menschen
  oder solche, die gegen die geltenden Regeln verstießen – zum Beispiel indem sie an einem Festtag
  arbeiteten –, mussten Strafen befürchten. Sagen berichten davon: Das Brot, das am Feiertag gebacken
  wird, versteinert im Ofen.


  VOLKSBRAUCH UND ABERGLAUBE

  Aberglaube war die Triebfeder vieler Rituale, die im bäuerlichen Bereich praktiziert wurden. Dabei
  spielte Essbares eine wichtige Rolle: Wenn zum Beispiel der Wind heftig wehte, so musste er gefüttert

  werden – mit Mehl, das man im Freien ausstreute, oder Brot, ins Geäst eines Baums gelegt. Böse
  Geister  wie  das  Stallmandl,  das  in  der  Ortschaft  Dreihütten  im  Burgenland  sein  Unwesen  trieb,
  besänftigte man mit einer Portion Bohnensterz im Stall. Der musste sauber und ordentlich ausgemistet
  sein. Fand das Stallmandl nicht das rechte Ambiente zum Speisen vor, kippte es den Sterz auf den
  Boden und brachte Krankheiten über den Hof.


























  Bittprozession in den 1930er-Jahren: An den Tagen vor Christi Himmelfahrt zogen die Dörfler zur Kirche und erbaten
  Segen für die Ernte.

     Mit Brot sind viele Brauchformen verbunden, die heute nicht mehr praktiziert werden. Sie zeugen

  vom  Respekt,  den  dieses  wichtigste  Nahrungsmittel  verdient,  können  aber  auch  als  Formen  des
  Aberglaubens interpretiert werden: Wer die Regeln nicht befolgt, ist der Nahrung nicht würdig und
  wird folglich Hunger leiden. Zu diesen Brauchtumsformen gehören unter anderem: das kreuzförmige
  Einritzen des Brotlaibs als Form der Segnung und das Küssen des hinuntergefallenen Brotes als Form
  der  Entschuldigung.  Auch  zahlreiche  Verbote  zeugen  von  Aberglauben:  Schwangere  oder
  menstruierende Frauen dürfen nicht in die Backstube, sonst misslingt das Brot. Das Brot darf nicht
  gestochen,  sondern  nur  geschnitten  werden  und  zwar  von  niemand  anderem  als  dem
  Haushaltsvorstand – eine Regel, die sicher auch den Grund hatte, die ökonomische Verteilung des
  Grundnahrungsmittels der Kontrolle des Hausherrn zu unterwerfen. Verboten ist auch, den Brotlaib
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