Page 310 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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8.3 • Exkurs zum Fall: Deutsches Verwaltungsrecht und Unionsrecht
8.3.5 Klagebefugnis, § 42 II VwGO
Eine unmittelbar wirksame Unionsrechtsnorm (z. B. eine
Richtlinie) kann vor nationalen Gerichten durch den Bürger
durchgesetzt werden. Nach § 42 II VwGO direkt oder analog ist
dann das Vorliegen einer Klagebefugnis, d. h. der Kläger muss
in einem subjektiv-öffentlich Recht verletzt sein, erforderlich
für die Zulässigkeit der Klage.
Die im deutschen Recht vorherrschende Theorie zur Be-
stimmung des subjektiv-öffentlichen Rechts ist die Schutz-
normtheorie (vergleiche: BVerwG NJW 1990, 2249). Sie
verleiht Rechte an einen Einzelnen dann, wenn die in Rede
stehende Norm nicht nur die Interessen der Allgemeinheit
sondern auch die Interessen des (betroffenen) Bürgers schützt.
Dem EuGH ist dieses Verständnis zur Bestimmung des
subjektiv-öffentlichen Rechtes fremd. Seiner Ansicht nach ist
zur Bestimmung des Tatbestandsmerkmals das Rechtsinstitut
der „Betroffenheit“ anzuwenden. Ein subjektives Recht wird
durch eine unmittelbar wirksame Richtlinie nur dann begrün-
det, wenn der Kläger durch die (Nicht-)Anwendung der uni-
onsrechtlichen Norm in seinem persönlichen Lebensbereich
berührt wird (Verholen, Slg. 1991, I-3757).
Folglich ist bei Klagen, die auf einer unmittelbar wirksa-
men Unionsnorm beruhen, das subjektiv-öffentliche Recht des
§ 42 II VwGO im Sinne der „Betroffenheit des Klägers“, wie es
durch den EuGH verstanden wird, auszulegen. Die Schutz-
normtheorie ist nicht anzuwenden, die a. A. gestaltet sie euro-
parechtskonform aus.
Beispiel: § 3 I UIG setzt die UmweltinformationsRL 2003/4/
EG (ABl. 2003L 41, 26) um. Danach kann „jedermann“ klagen
und nicht nur ein betroffener Einzelner, wie es nach der Schutz-
normtheorie erforderlich wäre. Dennoch ist § 3 I UIG ein eine
Klagebefugnis begründendes Recht. Dies kann als Übergang von
der Verletztenklage zur Interessentenklage gedeutet werden.
Zu beachten ist, dass der EuGH im Umweltrecht großzügig
in der Annahme der unmittelbaren Wirksamkeit von Unions-
recht ist, wenn dieses dazu dient, die menschliche Gesundheit
zu schützen (Janecek, Slg. 2008, I-6221, Rn. 44). Dies ist auch
wichtig in der aktuellen Diskussion um die Konsequenzen aus
der Nichtdurchführung einer UVP-Prüfung. Das BVerwG ver-
tritt hier einen restriktiven Ansatz, wonach eine Aufhebung
der zugrunde liegenden Sachentscheidung nur dann vorzu-
nehmen ist, wenn die konkrete Möglichkeit besteht, dass die
Behörde ohne den Fehler anders entschieden hätte (BVerwG,
NVwZ 2008, 563). Ob dies im Hinblick auf die Vorabentschei-
dung in der Sache Janecek noch zu halten ist, ist zumindest
sehr fraglich.