Page 306 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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8.2 • Fall: „Rückforderung von Beihilfen“
4. Ermessen
Nach § 48 I VwVfG „kann“ ein rechtswidriger Verwaltungsakt zu- Ermessensreduzierung auf Null
rückgenommen werden. Bei unionsrechtswidrigen Beihilfen re-
duziert sich dieses Ermessen auf Null, weil ansonsten die Grund-
sätze der nichtdiskriminierenden und effektiven Durchsetzung
des Unionsrechts nicht gewahrt werden könnten. Bei mit dem
Binnenmarkt unvereinbaren staatlichen Maßnahmen beschränkt
sich die Rolle der nationalen Behörden auf die Durchführung der
Entscheidungen der Kommission. Bei der Rücknahmeanordnung
eines Bewilligungsbescheides durch die Kommission besteht also
kein Ermessen seitens der nationalen, hier deutschen Behörde.
Fraglich ist nun, ob die Verpflichtung zur Rücknahme auch dann
besteht, wenn eine (deutsche) Behörde für die Rechtswidrigkeit
der Beihilfe in einem solchen Maße verantwortlich ist, dass nach
deutschem Recht eine Rücknahme gegen den Grundsatz von
Treu und Glauben verstoßen würde. Die Beihilfe wurde A prak-
tisch aufgedrängt, um eine Betriebsstilllegung zu verhindern und
Arbeitsplätze zu retten. Jedoch obliegt A die Überprüfungspflicht,
ob das Verfahren des Art. 108 AEUV eingehalten worden ist. Dieser
Verpflichtung ist A nicht nachgekommen. Die Vergewisserung ist
von dem Verhalten der Behörde unabhängig und der Grundsatz
von Treu und Glauben greift vorliegend nicht ein. Es besteht wei-
terhin eine Rücknahmeverpflichtung für die (zuständige) deut-
sche Behörde.
5. Rücknahmefrist, § 48 IV VwVfG
Allerdings könnte ein Verstoß gegen die Rücknahmefrist des Keine Anwendung der Jah-
§ 48 IV VwVfG gegeben sein. Die Rücknahme eines Verwaltungs- resfrist
aktes ist nur innerhalb eines Jahres möglich, wenn die Behörde
von Tatsachen Kenntnis erlangt, die die Rücknahme eines Beschei-
des rechtfertigen. Der Fristlauf beginnt mit dem Zeitpunkt der
Kenntniserlangung durch die Behörde. Das Schreiben der Kom-
mission, in dem es auf die Rechtswidrigkeit der Beihilfegewährung
hinwies, datiert aus dem Jahre 1983. Damit hätte die zuständige
Behörde bei „ungetrübter“ Anwendung des § 48 IV VwVfG 1983
von der Rechtswidrigkeit des Bescheides Kenntnis erlangt und
eine Rücknahme wäre mangels Verfristung nicht mehr möglich.
Allerdings muss auch die Rücknahmefrist europarechtskonform
ausgelegt werden. Zu beachten ist wiederum, dass A die Einhal-
tung des Notifizierungsverfahrens durch das Land Rheinland-
Pfalz nicht überprüft hat. Ein berechtigtes Vertrauen in die Ord-
nungsgemäßheit der Beihilfe bestand also von Anfang an nicht.
Ferner wird die nationale Behörde nur als „Erfüllungsgehilfe“ der
Kommission tätig, da ihr kein Rücknahmeermessen zukommt. Sie
muss zurücknehmen. Diese Situation ist nicht mit der im deut-
schen Recht herrschenden vergleichbar, wo der Begünstigte nicht
weiß, ob und wann die Behörde eine Entscheidung treffen wird.
Ab der Kommissionsentscheidung ist der Beihilfeempfänger nicht