Page 274 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Beziehung arbeitsliebenden müssen wir suchen; oder wie solltest du
                glauben, daß irgend Jemand sowohl körperlich sich anstrengen wolle, als
                auch eine so ausgedehnte Lernthätigkeit und Uebung zu Ende führen

                werde? – Allerdings Keiner, sagte er, wenn er nicht durchaus eine
                treffliche Begabung hat. – Der jetzt bestehende Fehlgriff wenigstens,
                sagte ich, und die Verachtung der Weisheitsliebe sind darum eingetreten,
                weil, wie wir auch schon oben sagten B. VI. Cap. 9., man nicht in
                verdienter Weise sich an sie machte; denn unächt Geborne hätten sich
                nicht an sie machen sollen, sondern nur ächt Geborne. – Wie so? sagte
                er. – Erstens, erwiederte ich, darf, wer sich an sie macht, bezüglich der

                Arbeitsliebe nicht ein Hinkender sein, so daß er zur Hälfte arbeitsliebend
                und zur Hälfte arbeitsscheu wäre; es ist aber dieß Jemand dann, wenn er
                zwar Leibesübungen liebt und die Jagd liebt und in allen körperlichen
                Dingen die Anstrengung liebt, aber weder lernbegierig, noch
                hörbegierig, noch zu Untersuchungen aufgelegt ist, sondern in all diesem
                jede Anstrengung haßt; ein Hinkender aber ist auch jener, welcher

                bezüglich der Arbeitsliebe in das Gegentheil von diesem umgeschlagen
                hat. – Sehr wahr, sagte er, sprichst du da. – Nicht wahr also, auch
                bezüglich der Wahrheit, sagte ich, werden wir in gleicher Weise jene
                Seele als eine verstümmelte bezeichnen, welche zwar die freiwillige
                Lüge haßt und sowohl an sich selbst nicht dulden will, als auch bei den
                Lügen Anderer überaus entrüstet ist, hingegen die unfreiwillige gutwillig
                sich gefallen läßt und, wenn sie auf einer Unwissenheit ertappt wird,

                nicht entrüstet ist, sondern leichtfertig, wie ein zur Schweinehaltung
                gehöriges Thier, sich im Schlamme der Unwissenheit wälzt. – Ja, völlig
                so ist es, sagte er. – Und auch bezüglich der Besonnenheit, sprach ich,
                und der Tapferkeit und der Großartigkeit und aller Zweige der
                Vortrefflichkeit muß man nicht in geringem Grade den unächt und den
                ächt Gebornen beachten; denn wenn das Verständniß in Erwägung all der

                derartigen Dinge fehlt, sei es bei einem Einzelnen, oder sei es bei einem
                Staate, so gebrauchen sie, ohne es zu bemerken, eben Hinkende und
                unächt Geborne bei jeder beliebigen Verwendung derselben, ersterer als
                Freunde und letzterer als Herrscher. – Gar sehr ja auch, sagte er, verhält
                sich’s so. – Wir demnach, sprach ich, müssen uns vor all dergleichen in
                Acht nehmen, da ja, wenn wir geradgliedrige und geradsinnige
                Menschen zu dem so ausgedehnten Unterrichte und der so ausgedehnten

                Uebung hinführen und hiedurch sie bilden, sowohl die Gerechtigkeit
                selbst uns keine Vorwürfe machen wird, als auch wir den Staat und die
                Staatsform bewahren werden, hingegen wenn wir anders beschaffene zu
                jenem anleiten, uns von all diesem das Gegentheil widerfahren wird und





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