Page 276 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 276

entlassen werden; denn jene Zeit, mag sie zwei oder drei Jahre dauern,
                enthält keine Möglichkeit, irgend etwas Anderes zu betreiben, denn
                Müdigkeit und Schlaf sind dem Unterrichte feind; und zugleich ja

                handelt es sich da um eine eigene, und zwar sehr bedeutende, Probe, wie
                sich ein Jeder in den Leibesübungen zeige. – Wie sollte es auch anders
                sein? sagte er. – Nach dieser Zeit demnach, sprach ich, vom zwanzigsten
                Jahre an werden die Ausgewählten größere Ehren genießen, als die
                Uebrigen, und die Unterrichtsgegenstände, welche den Knaben bei ihrer
                Bildung durch einander zu Theil geworden waren, müssen nun für diese
                zu einer Uebersicht der gegenseitigen Verwandtschaft der Gegenstände

                und der Natur des Seienden zusammengeführt werden, – Allein nur ein
                derartiger Unterricht, sagte er, haftet wenigstens fest in jenen, welchen er
                zu Theil wird. – Und es ist ja, sprach ich, dieß die größte Probe einer
                dialektischen Begabung, denn wer zur Uebersicht befähigt ist, ist zur
                Dialektik befähigt, wer jenes nicht, auch dieß nicht, – Ich bin der
                gleichen Meinung, sagte er. – Auf dieß demnach, sagte ich, wirst du

                genau sehen müssen, wer unter jenen am meisten ein Derartiger sei, und
                wer Ausdauer habe bei den Unterrichtsgegenständen, Ausdauer aber
                auch im Kriege und dem Uebrigen, was die Gesetze vorschreiben, und
                Solche also hinwiederum mußst du, wenn sie das dreißigste Jahr
                überschritten haben, aus den Ausgewählten wieder auswählen und
                abermals in größere Ehren versetzen und durch eine Erprobung
                bezüglich der dialektischen Fähigkeit beachten, wer die Fähigkeit habe,

                von den Augen und aller übrigen Sinneswahrnehmung sich loszuschälen
                und auf das Seiende an und für sich mit Wahrheit sich hinzuwenden; und
                hier denn nun, o Freund, ist es Sache einer großen Behutsamkeit. –
                Worin zumeist? sagte er. – Bemerkst du nicht, sprach ich, welch großes
                Unheil so, wie es jetzt steht, bezüglich der dialektischen Uebung eintritt?
                – Was meinst du hiemit? sagte er. – Von einem den Gesetzen feindlichen

                Sinne, erwiederte ich, wird es ja jetzt erfüllt. – Ja wohl, gar sehr, sagte er.
                – Glaubst du also, sprach ich, es sei zu verwundern, was ihnen
                widerfährt, und läßt du ihnen nicht Verzeihung angedeihen? – In welcher
                Beziehung doch wohl? sagte er. – Wie wenn z. B., sprach ich, Jemand als
                unterschobenes Kind in großem Vermögen und in einem ausgedehnten
                und angesehenen Geschlechte und unter vielen Schmeichlern aufgenährt
                würde, er aber dann, Mann geworden, bemerken würde, daß er nicht von

                jenen angeblichen Eltern abstamme, seine wirklichen Erzeuger aber
                nicht finden könnte, kannst du von einem Solchen wohl ahnen, in
                welcher Stimmung gegen die Schmeichler und gegen die sich ihm
                fälschlich aufdrängenden Eltern er in jener Zeit sich befinde, in welcher





                                                          275
   271   272   273   274   275   276   277   278   279   280   281