Page 426 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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es wohl einen Mann von so allumfassendem Geiste, dem gar Nichts
                entgangen wäre; auch ist es unmöglich, daß ein Verein aller Talente in
                Einem Zeitraume Alles so auf die Dauer berechnen könnte, daß er die

                Erfahrung und die Probe der Zeit zu ersetzen vermöchte. Darum will ich
                denn, wie Cato zu thun pflegte, in meinem Vortrage jetzt auf die
                Uranfänge unseres Volkes zurückgehen, denn ich bediene mich gern
                eines Ausdruckes des Cato.        190  Ich werde aber meinen Zweck leichter
                erreichen, wenn ich euch nachweise, wie unser Staat entstanden, wie er

                herangewachsen, wie er gereift ist, und dann festgegründet und stark da
                stand, als wenn ich, wie Socrates bei Plato, irgend ein Ideal aus meinem
                Kopfe ersinne.
                     2. Als Alle damit ihre Zufriedenheit bezeugten, fuhr er fort: haben
                wir wohl einen berühmtern und allbekanntern Anfang der Geschichte der

                Gründung eines Staates, als die Unternehmung der Erbauung dieser
                Stadt, die von Romulus ausging? Dieser, ein Sohn des Mars – wir wollen
                einmal uns nach der Sage bequemen, die nicht nur schon durch hohes
                Alter ehrwürdig, sondern auch von unsern Vorfahren weislich
                fortgepflanzt worden ist, vermöge welcher man um das Gemeinwohl
                höchst verdienten Männern nicht nur göttlichen Geist, sondern auch
                göttliche Abkunft zuschrieb. – Romulus also, mit seinem Bruder Remus,
                191  soll auf Befehl des Amulius, des Königes von Alba [Longa], weil

                Dieser seinen Thron durch ihn gefährdet glaubte, an der Tiber ausgesetzt
                worden seyn. Als ihm nun dort ein wildes Thier seine Brüste gereicht
                und ihn ernährt, darauf Hirten ihn gefunden, und bei ihrer ländlichen

                Lebensweise und Beschäftigung groß gezogen hatten, soll er, nachdem er
                herangewachsen war, sich vor Allen in seiner Umgebung durch
                Körperstärke und kühnen Trotz so ausgezeichnet haben, daß alle
                damaligen Bewohner der Gegend, wo jetzt unsere Stadt liegt, ihm ohne
                Widerstand und gerne gehorchten. Und nachdem er sich an die Spitze
                dieses Haufens gestellt, habe er, berichtet die Sage, (um aus der
                mythischen Erzählung auf wirkliche Thatsachen einzulenken,) Alba

                Longa, eine damals bedeutende und mächtige Stadt, überwältigt, und den
                König Amulius erschlagen.
                     3. Auf diese glänzende Waffenthat, soll er den Gedanken gefaßt
                haben, unter Berathung durch Auspicien eine Stadt zu erbauen und einen
                Staat zu begründen. Für seine Stadt wählte er aber (ein Punkt, der für
                Den, welcher einen Staat auf die Dauer zu gründen gedenkt, der

                sorgfältigsten Erwägung bedarf) einen Platz, welcher der künftigen Stadt
                unglaubliche Vortheile gewährte.         192  Denn erstlich verlegte er sie nicht






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