Page 427 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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an das Meer hin, wiewohl es ihm mit seinem Heere und seiner
                Truppenzahl ein Leichtes gewesen wäre, in das Gebiet der Rutuler oder
                der Aboriginer vorzurücken, oder an der Tibermündung seine Stadt

                anzulegen, wo viele Jahre nachher der König Ancus eine Pflanzstadt
                anlegte:   193  denn als ein Mann von weitsehendem Blicke erkannte und
                fühlte er sehr richtig, daß für Städte, die man mit Absicht auf lange
                Dauer und Begründung ausgebreiteter Herrschaft erbauen wolle, die

                Lage an der See nicht die vortheilhafteste sey:          194  und Dieß schon aus
                dem Grunde, weil Städte an der See nicht nur überhaupt vielen Gefahren
                ausgesetzt sind, sondern auch unvoraussehbaren. Denn das Festland
                kündigt nicht nur das erwartete, sondern auch ein plötzliches Anrücken

                von Feinden durch viele Merkzeichen, und gleichsam durch ein Getöse
                und ein vernehmbares Geräusch, zum voraus an. Denn so schnell kann
                kein Feind zu Lande herbeieilen, daß man nicht wissen könnte, nicht nur,
                daß er erscheine, sondern auch, Wer er sey, und woher er komme.
                Kommt aber der Feind von der See her und zu Schiffe, so kann er eher
                da seyn, als nur Jemand zu ahnen vermag, daß er kommen werde. Und
                ist er da, so sieht man ihm erst noch nicht an, Wer er ist, woher er kommt

                oder was er will: überhaupt gibt es ja nicht einmal ein äußeres
                Kennzeichen, woraus man erkennen und schließen könnte, ob, Wer
                kommt, Freund oder Feind sey.
                     4. Auch reißt in Seestädten leicht Verderbniß, wenigstens
                unerfreuliche Veränderung der Sitten ein: die Einwohner eignen sich
                neue Redeweisen und fremde Gebräuche an, wodurch die ihrigen anders

                gestaltet werden; auch werden nicht nur ausländische Waaren, sondern
                auch ausländische Gewohnheiten eingeführt, so daß keine der
                vaterländischen Einrichtungen davon unangesteckt bleibt. Die Leute in
                solchen Städten haben keine Anhänglichkeit an ihre Heimath, sondern es
                flattern ihre Hoffnungen und Gedanken immer in's Weite und Entlegene
                hinaus, ja selbst, wenn sie mit ihrem Körper an Ort und Stelle bleiben,
                schwärmen und schweifen sie doch mit ihrem Sinne in der Ferne herum.

                Und wahrlich, kein Umstand hat bei Korinth             195  und Karthago, als beide
                Staaten schon wankten, den gänzlichen Umsturz mehr beschleunigt, als

                dieser unstete Sinn und diese Unheimathlichkeit der Bürger,              196  weil sie
                aus Lust am Handel und an der Schifffahrt die Uebung des Ackerbaues
                und der Waffen aufgegeben hatten. Auch werden solchen Städten von
                der See her viele verderbliche Reizmittel zur Ueppigkeit beigeschafft,
                die entweder als erbeutetes Gut oder als Einfuhrgegenstände
                hereinkommen; ja schon die reizende Lage (an der See) verursacht eine






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