Page 432 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Julius Proculus, einem schlichten Landmanne, Etwas glaubte, was die
                Leute schon Jahrhunderte früher von keinem andern Sterblichen geglaubt
                haben würden. Dieser Proculus soll nämlich, veranlaßt von den

                Senatoren, um den sie verhaßt machenden Verdacht, als seyen sie am
                Tode des Romulus Schuld, von ihnen abzuwälzen, öffentlich vor dem
                Volk aufgetreten seyn und gesagt haben, er habe den Romulus auf dem
                Hügel erblickt, der jetzt der Quirinalische heißt, und Dieser habe ihm
                aufgetragen, das Volk zu bitten, ihm auf diesem Hügel einen Tempel zu
                erbauen: er sey (jetzt) ein Gott, und heiße Quirinus.
                     11. Seht ihr also, wie durch Eines Mannes weise Maßregeln ein

                neues Volk nicht blos entstanden, auch nicht blos noch in der Wiege
                wimmernd zurückgelassen worden, sondern schon groß gewachsen und
                fast gereift. Ja, sagte Lälius, wir sehen es; und finden zugleich, daß du
                bei deinem Vortrage einen ganz neuen Weg eingeschlagen hast, wovon
                sich in den Schriften der Griechen kein Vorgang findet. Denn jener

                Hauptschriftsteller,    223  den in der Darstellung Keiner übertroffen hat, hat
                sich selbst einen Boden geschaffen [zur Aufführung seines Gebäudes]
                und zwar er vielleicht einen ganz trefflichen, der aber für die Menschen,

                wie sie sind, und für ihren Charakter nicht paßte.          224  Die Andern aber
                sprachen [in ihren Büchern], ohne mit sich selbst über eine bestimmte
                Idee einig zu seyn, von den verschiedenen Formen und Gattungen der

                Staaten hin und her.     225  Du scheinst mir Beides vereinigen zu wollen;
                denn in deinem bisherigen Vortrage sprichst du dich so aus, daß du die
                Resultate deines eigenen Nachdenkens lieber, als wären es fremde
                Gedanken, darstellen, als, wie Sokrates bei Plato thut, aus dir selbstthätig
                schaffen zu wollen scheinst; und daß du Dem, was den Romulus der
                Zufall oder die Noth zu thun veranlaßt hat, nämlich der für die Stadt
                gewählten Lage, einen berechneten Plan unterlegst, und nicht mit
                unbestimmt umherschweifender Rede, sondern einem auf Einen Staat

                gerichteten Blicke. Darum setze nur immerhin deine Entwicklung fort, in
                der Weise, wie du sie begonnen hast. Denn schon ist mir, als werdest du
                bei Schilderung der übrigen Könige nach und nach ein Gemälde einer
                vollendeten Staatsform liefern.
                     12. Wie nun, fuhr Scipio fort, jener Senat des Romulus, der aus

                Optimaten bestand, die der König selbst so hoch geachtet hatte, daß er
                sie Väter ( patres) und ihre Söhne Patricier ( patricios)             226  genannt
                wissen wollte, nach dem Hintritt des Romulus ohne König die Zügel der
                Regierung fassen und leiten wollte, lehnte sich das Volk dagegen auf,
                und ließ fortwährend aus Sehnsucht nach dem Romulus nicht ab, einen






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