Page 622 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Essens und Trinkens und was immer eine Ergötzlichkeit ähnlicher Art
                ist, das ist Alles nur der Gesundheit wegen anzustreben – haben sie als
                ein Axiom aufgestellt. Das sei Alles nichts an sich Angenehmes, sondern

                nur insofern, als es der sich einschleichenden Krankheit Widerstand
                leistet.
                     Wie darum ein weiser Mann es als seine Aufgabe erachte, vielmehr
                den Krankheiten vorzubeugen, als nach Arzeneien zu verlangen, und die
                Schmerzen von vornherein abzuwenden, als Linderungsmittel dagegen
                zu suchen, so wäre es auch vorzuzeigen, dieser Art von Vergnügen nicht
                zu bedürfen, als vom entgegen gesetzten Schmerz dadurch geheilt

                werden zu müssen. Wenn jemand glauben sollte, daß ihn derlei
                Vergnügungen glückselig machen, so müßte er nothwendigerweise dann
                am allerglücklichsten werden wenn er ein Leben führte, das unter
                beständigem Hunger, Durst, Jucken, Essen, Trinken, Kratzen und Reiben
                verbracht wird.
                     Der sieht aber nicht, daß ein solches Leben ein ebenso unfläthiges

                wie elendes ist? Diese Art von Vergnügen sind die niedrigsten, die am
                wenigsten reinen. Denn sie stellen sich nie ein, ohne die gerade
                entgegengesetzten Schmerzen. So ist mit der Eßluft der Hunger
                verbunden und zwar in einem keineswegs gleichen Verhältnisse denn je
                heftiger der Schmerz, desto länger dauert er. Denn er beginnt vor dem
                Vergnügen und endet nicht früher, als bis das Vergnügen zugleich mit
                ihm erlischt.

                     Aus diesen Grünen halten sie von Vergnügen dieser Art nicht viel,
                außer da, wo dieselben durch die Nothdurft erfordert sind.
                     Indessen sie erfreuen sie auch ihrer und erkennen dankbar die Güte
                der Mutter Natur an, die ihre Kinder mit lieblich schmeichelnden
                Empfindungen zu dem anlockt, was sich als eine unausweichliche
                Nothwendigkeit darstellt und darum gethan werden muß. Wie viel größer

                wäre die Widerwärtigkeit, unter der wir zu leben hätten wenn wir, wie
                die andern Krankheiten, die uns zwar seltener anfechten, auch diese
                tägliche des Hungers und des Durstes durch Gifte und bittere Arzneien
                zu vertreiben hätten?
                     Die Gestalt, die Körperkräfte und die Gelenkigkeit pflegen sie gern
                als die eigentlichen und angenehmen Geschenke der Natur. Aber die
                Arten Vergnügen, die durch Ohren, Augen und Nase aufgenommen

                werden, die die Natur als dem Menschen eigentümliche, speziell ihm
                zukommende, bestimmt hat (denn keine andere Gattung von Lebewesen
                faßt Bau und Schönheit der Welt mit dem Blicke auf, es gibt keine
                Feinheit der Düfte für sie, sie bedienen sich des Geruchsinnes nur zur





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