Page 633 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 633

derselben halten sie für die am meisten der Billigkeit entsprechende.
                Denn da, wie sie behaupten, alle Gesetze nur zu dem Zwecke publicirt
                werden, daß Jeder durch sie ermahnt werde seiner Pflicht eingedenk zu

                bleiben, so enthält eine feinere Auslegung diese Mahnung nur für sehr
                Wenige, (denn nur Wenige vermögen ihr zu folgen), während eine
                einfachere Auslegung und ein deutlich zu Tage tretender Sinn der
                Gesetze für Alle verständlich ist, denn was verschlägt es dem gemeinen
                Volke dessen Kopfzahl die größte ist und das am meisten der
                belehrenden Ermahnung bedarf, ob überhaupt keine Gesetze gegeben
                würden, oder ob ihnen eine solche Auslegung gegeben wird, daß nur ein

                glänzender Geist und eine langwierige Erörterung ihr auf den Grund
                kommen kann, die anzustellen der unverfeinerten Urtheilskraft des
                Volkes nicht gut möglich ist und wozu ein ausschließlich nur der
                Erwerbung des Lebensunterhaltes gewidmetes Leben keine Gelegenheit
                bietet?
                     Diese Tugenden der Utopier haben ihre Grenznachbarn, die in

                Freiheit leben (denn die Utopier selbst haben viele derselben dereinst
                von der Tyrannei befreit), bestimmt, sich ihre obrigkeitlichen Personen,
                die einen jährlich, die andern für fünf Jahre, bei den Utopiern zu
                entnehmen, welche sie nach vollbrachter Amtszeit mit Ehren und Lob
                überhäuft, in ihr Vaterland zurückgeleiten, um sofort wieder neue von da
                zu sich nach Hause mitzunehmen.
                     Das Staatswesen dieser Völker ist in der That auf diese Weise aufs

                Beste berathen, denn, da dessen Heil oder Verderben von den Sitten der
                Obrigkeit abhängt, was für Personen hätten sie klügerer Weise sich zu
                solchen erwählen können, als solche, die um keinen Preis vom Pfade des
                Rechtes abgezogen werden können (da Geld ihnen, die bald wieder in
                ihre Heimat zurückkehren nichts nützen würde) und die, als Fremde,
                keinen einzelnen Bürger kennen, daher weder durch ungebührliche

                Gunst, noch desgleichen Gehässigkeit sich verleiten lassen.
                     Diese beiden Uebel, Privatgunst und Habsucht, zerstören, wo sie sich
                in den Gerichten einnisten, die Gerechtigkeit, das stärkste Fundament
                des Staates, ganz und gar.
                     Die Völker, welche die Personen der Staatsverwaltung von ihnen
                entlehnen, nennen die Utopier Bundesgenossen, jene Andern, denen sie
                Wohlthaten erwiesen haben, nennen sie Freunde.

                     Bündnisse, wie sie andere Völker unter einander schließen, brechen
                und wieder erneuern, gehen sie mit keiner anderen Nation ein. Wozu
                dient ein solches Bündniß? sagen sie. Als ob die Natur nicht einen
                Menschen dem andern schon genügend durch freundliche Bande





                                                          632
   628   629   630   631   632   633   634   635   636   637   638