Page 634 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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verbunden hätte? Und man glaube, daß, wenn ein Mensch diese
verachtet, er die Worte eines Vertrages beachten werde?
Zu dieser Meinung sind sie hauptsächlich deswegen gekommen, weil
in den Länderstrichen jenes Welttheils Bündnisse und Verträge der
Fürsten mit sehr geringer Treue gehalten zu werden pflegen. Denn in
Europa, insbesondere in jenen Theilen desselben, wo christlicher Glaube
und Religion herrschen, ist die Majestät der Bündnißverträge überall
heilig und unverletzlich, theils wegen des Gerechtigkeitssinnes und
braven Charakters der Fürsten, theils aus Ehrerbietung gegen und aus
Furcht vor dem päpstlichen Stuhl, der, wie seine Regenten selbst nichts
begehen, was der Religion zuwiderläuft, so auch den übrigen Fürsten
gebietet, daß sie ihre Versprechungen getreulich halten, und die sich
Weigernden durch oberhirtliche Ermahnungen und Strenge dazu zwingt.
Mit Recht wahrlich halten sie es für eine höchst schändliche Sache,
wenn den Bündnissen Derjenigen nicht Treu und Glauben beizumessen
ist, die mit einem speziellen Namen »die Gläubigen« genannt werden.
Aber in jenem neuentdeckten Welttheile, der weniger noch durch den
Aequator von uns geschieden ist, als durch die Lebensverhältnisse, Sitten
und Gebräuche, ist auf Bündnißverträge nicht zu bauen, denn mit je
mehr feierlichen Ceremonien einer verknüpft ist, desto schneller wird er
gebrochen, indem leicht in seinem Wortlaute eine hinterlistige Deutung
gefunden werden mag, den sie absichtlich so verschmitzt gestalten, daß
sie nie fest gefaßt werden können, um nicht immer ein Hinterpförtchen
zu finden, durch das sie zu entschlüpfen im Stande sind, und dem
Bündniß zusammt der geschwornen Treue sich zu entziehen vermögen.
Wenn sie solche Verschlagenheit, solchen Lug und Trug in einem
Privatvertrage entdeckten, so würden sie über ein solches Gebahren als
über ein verruchtes, das den Galgen verdiene, mit hochgezogenen
Brauen ein Zetergeschrei erheben, ja, das würden sie, ebendieselben, die
sich rühmen, die Urheber solcher den Fürsten gegebenen Rathschläge zu
sein.
Auf diese Weise erhält es den Anschein, als ob die Gerechtigkeit eine
niedrige Tugend des gemeinen Völkes sei, die tief unter der königlichen
Erhabenheit stehe, oder, daß es wenigstens eine doppelte Gerechtigkeit
gebe, die eine, die dem gemeinen Volke zukomme, bescheiden zu Fuße
gehend, ja demüthig am Boden hinkriechend, die keine Zäune und
Hecken überspringen kann, von allen Seiten geknebelt und
eingeschränkt, die andere als Tugend der regierenden Fürsten, viel
erhabener als jene volksthümliche, mit einem bei weitem freieren
Spielraum, so daß ihr alles zu thun erlaubt ist, was ihr beliebt.
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