Page 691 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Heilwissenschaft nichts andres als die von den alten Ärzten gemachte
Erfahrung, auf die die jetzigen ihre Wissenschaft gründen.
Nichtsdestoweniger greift bei der Einrichtung der Republiken, der
Erhaltung der Staaten, der Regierung der Reiche, der Einrichtung des
Heerwesens und der Kriegführung, bei der Rechtsprechung über die
Untertanen und der Erweiterung der Herrschaft kein Fürst oder Freistaat,
kein Feldherr oder Bürger auf die Beispiele der Alten zurück.
Das kommt nach meiner Ansicht nicht sowohl von unsrer
schwächlichen Erziehung noch von dem Schaden, den ehrgeiziger
Müßiggang vielen Ländern und Städten der Christenheit zugefügt hat, als
vielmehr von dem Fehlen jeder wahren Geschichtskenntnis, da man beim
Lesen der Geschichte weder ihren Sinn begreift, noch den Geist der
Zeiten erfaßt. Zahllose Leser finden nur Vergnügen daran, die bunte
Mannigfaltigkeit der Ereignisse an sich vorüberziehen zu lassen, ohne
daß es ihnen einfällt, sie nachzuahmen. Sie halten die Nachahmung nicht
nur für schwierig, sondern für unmöglich, als ob Himmel, Sonne,
Elemente und Menschen in Bewegung, Gestalt und Kräften anders wären
als ehedem.
Von diesem Irrtum möchte ich die Menschen befreien, und darum
habe ich es für nötig gehalten, über alle Bücher des Titus Livius, die uns
die mißgünstige Zeit nicht geraubt hat, das niederzuschreiben, was ich
auf Grund alter und neuer Begebnisse zu ihrem besseren Verständnis
beizutragen vermag, damit die Leser dieser Betrachtungen den Nutzen
daraus ziehen können, dessentwegen man Geschichtskenntnis erwerben
soll. Für diesen Gedanken vgl. Polybios I, 1, II, 56,12, III, 131; Diodor I,
1. Das Unternehmen ist schwierig, aber mit Hilfe derer, die mich
ermutigt haben, diese Last auf mich zu nehmen, glaube ich es doch so
weit zu bringen, daß einem andern nur noch ein kurzer Weg bis zum
Ziele bleibt.
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