Page 692 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Erstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                     Vom Ursprung der Städte im allgemeinen und der Entstehung
                                                        Roms.


                Liest man die Urgeschichte Roms, wie es gegründet wurde und welches
                seine Gesetzgeber waren, so wundert man sich nicht, daß sich
                jahrhundertelang so hohe Tugend in dieser Stadt erhielt und daß aus ihr
                allmählich ein Weltreich entstand. Um zunächst von ihrem Ursprung zu

                reden, schicke ich voraus, daß alle Städte entweder von Eingeborenen
                der Gegend oder von Fremden erbaut werden.
                     Das erste tritt ein, wenn die Bewohner sich infolge ihrer zerstreuten
                Siedlungsweise nicht sicher fühlen. Wegen der Lage der Wohnorte oder
                der geringen Kopfzahl kann nicht jeder für sich dem Angriff eines

                Feindes standhalten; auch können sie sich im Fall eines feindlichen
                Angriffs nicht rasch genug zur Verteidigung sammeln. Geschähe es aber
                auch rechtzeitig, so müßten viele ihre Wohnsitze verlassen, und diese
                fielen dann rasch ihren Feinden zur Beute. Um diesen Gefahren zu
                entgehen, ziehen sie von selbst oder auf Veranlassung eines, der bei
                ihnen in besonderem Ansehen steht, an einem ausgesuchten Ort
                zusammen, wo sie bequemer leben und sich leichter verteidigen können.

                Derart entstanden unter vielen andern Städten Athen und Venedig.
                Ersteres wurde unter der Führung des Theseus von den zerstreuten
                Bewohnern aus ähnlichen Gründen erbaut. Venedig entstand, als sich
                viele Leute auf einige Inseln an der Spitze des Adriatischen Meeres
                geflüchtet hatten, um den ewigen Kriegen zu entgehen, die in Italien
                nach dem Untergang des römischen Reiches durch die fortwährenden

                Barbareneinfälle ausbrachen. Diese Flüchtlinge begannen miteinander
                ohne einen besonderen Fürsten zu leben, der ihnen Einrichtungen gab;
                sie schufen sich selbst die Gesetze, die ihnen zu ihrer Selbsterhaltung
                geeignet erschienen. Das gelang aufs beste, dank der langen Ruhe, die
                ihnen ihre Lage gab; denn das Meer verwehrte den Zugang, und die
                Völker, die Italien verheerten, hatten keine Schiffe, um sie anzugreifen.
                So konnte sich Venedig aus ganz kleinen Anfängen zu seiner jetzigen

                Größe erheben.







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