Page 693 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Im zweiten Falle wird eine Stadt von Fremden erbaut, und zwar
                entweder von freien Männern oder von abhängigen. Dahin gehören die
                Kolonien, die von einer Republik oder von einem Fürsten angelegt

                werden, um sich der überschüssigen Menschen zu entledigen, oder um
                ein neu erobertes Gebiet ohne Kosten zu sichern. Viele solcher Städte hat
                das römische Volk in allen Teilen seines Reiches erbaut. Oder sie werden
                von einem Fürsten gegründet, nicht zum Wohnsitz, sondern zu seinem
                Ruhme, wie die Stadt Alexandria von Alexander dem Großen. Da aber
                diese Städte nicht freien Ursprungs sind, so machen sie selten so große
                Fortschritte, daß sie zu Hauptstädten eines Reiches emporsteigen. In

                ähnlicher Weise wurde auch Florenz erbaut, sei es durch die Soldaten des
                Sulla, sei es von den Bewohnern der Berge von Fiesole, die sich im
                Vertrauen auf den langen Frieden, der mit Oktavian in die Welt kam, in
                der Arnoniederung ansiedelten. Da es aber unter römischer Herrschaft
                entstand, konnte es sich in den ersten Zeiten nur so weit ausdehnen, als
                es ihm die Gefälligkeit der Kaiser erlaubte.

                     Frei sind die Städtegründer, wenn ein Volk unter einem Herrscher
                oder selbständig neue Wohnsitze aufsucht, weil es durch Krankheit,
                Hunger oder Krieg zum Verlassen der Heimat gezwungen ist. Solche
                Völker lassen sich entweder in den Städten nieder, die sie in den
                eroberten Ländern finden, wie die Juden unter Moses, oder sie erbauen
                neue, wie die Römer unter Aeneas. In diesem Falle zeigt sich die
                Leistung des Erbauers und das Glück seiner Schöpfung. Je größer der

                Mann, um so wunderbarer erscheint das Gelingen. Seine Größe erkennt
                man an zweierlei: an der Wahl des Ortes und an seiner Gesetzgebung.
                     Die Menschen arbeiten entweder aus Not oder aus eignem Antrieb,
                und zwar zeigt sich da die größere Arbeitsamkeit, wo die Arbeit am
                wenigsten von unserm Belieben abhängt. Es fragt sich also, ob es nicht
                besser wäre, Für diesen Gedanken vgl. Herodot IX, 122. zur

                Städtegründung unfruchtbare Gegenden zu wählen, wo die Menschen
                mehr zur Arbeit gezwungen sind und sich weniger dem Müßiggang
                ergeben können, somit desto einträchtiger leben, da sie bei der Armut der
                Gegend weniger Anlaß zu Zwistigkeiten haben. So war es bei Ragusa
                Ragusa an der dalmatinischen Küste, eine altgriechische Kolonie, wurde
                nach dem Avareneinfall von 656 als Republik neu gegründet. Es stand
                seit 1204 unter der Schutzherrschaft Venedigs mit ähnlicher Verfassung

                wie dieses und wurde 1453 den Türken tributpflichtig. und bei vielen
                andern, an ähnlichen Orten erbauten Städten. Nun wäre eine solche Wahl
                ohne Zweifel die klügste und nützlichste, wenn die Menschen sich mit
                dem Ihrigen begnügten und nicht andern gebieten wollten. Da sie sich





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