Page 737 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Sechzehntes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Wenn ein Volk an Fürstenherrschaft gewöhnt ist und durch
irgendein Ereignis frei wird, behauptet es schwer seine Freiheit.
Zahllose Beispiele aus der alten Geschichte zeigen, wie schwer es für ein
an Fürstenherrschaft gewöhntes Volk ist, seine Freiheit zu behaupten,
wenn es sie durch irgendein Ereignis erlangt hat, wie Rom durch die
Vertreibung der Tarquinier. Das ist auch ganz natürlich, denn ein solches
Volk ist nichts als ein unvernünftiges Tier, das von Natur wild und
unbändig, aber stets eingesperrt und in Knechtschaft gehalten ist und
dann zufällig ins freie Feld gelassen wird, wo es die Beute des ersten
wird, der es wieder an die Kette legen will. Denn es ist nicht gewöhnt,
sich seine Nahrung zu suchen, und kennt die Schlupfwinkel nicht, in die
es sich verbergen könnte. Das gleiche trifft für ein Volk zu, das unter der
Herrschaft eines andern zu leben gewohnt ist. Es weiß sich weder zu
verteidigen noch andre anzugreifen, kennt weder die Fürsten, noch wird
es von ihnen gekannt und gerät daher bald wieder in ein Joch, das dann
meist schwerer ist als das kurz vorher abgeschüttelte. In dieser Notlage
befindet es sich schon, wenn es nicht ganz verderbt ist, denn ein ganz
verderbtes Volk vermag nicht einmal kurze Zeit, sondern keinen
Augenblick in Freiheit zu leben, wie unten gezeigt werden soll. Vorerst
sprechen wir nur von Völkern, bei denen die Verderbnis noch nicht
überhandgenommen hat, wo noch mehr Gesundes als Krankes
vorhanden ist.
Zu der oben genannten Schwierigkeit tritt noch eine andre, nämlich,
daß ein Staat, der frei wird, sich wohl Feinde, aber keine Freunde im
Innern erwirbt. Zu Feinden werden alle, die von der tyrannischen
Regierung Vorteile hatten und von den Reichtümern des Fürsten zehrten.
Da diese Quelle versiegt ist, können sie nicht zufrieden leben und
müssen allesamt versuchen, die Tyrannenherrschaft wieder einzuführen,
um wieder zu Ansehen zu gelangen. Freunde erwirbt sich ein solcher
Staat nicht, denn ein Freistaat setzt Ehren und Belohnungen nur für
rühmliche und bestimmte Handlungen aus, sonst aber für nichts. Auch
glauben die, denen diese Ehren und Vorteile zufallen, sie verdient zu
haben, fühlen sich daher denen, die sie ihnen erteilen, nicht zu Dank
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