Page 732 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Gegenmittel benutzte der Adel die Religion, und zwar auf zweierlei
                Weise. Erstens ließ er die Sibyllinischen Bücher einsehen und die
                Antwort geben, der Stadt drohe in diesem Jahre 461 v. Chr. Vgl. Livius

                III, 9 f. durch Aufruhr der Verlust ihrer Freiheit. Das jagte dem Volke,
                bevor die Tribunen hinter die List kamen, solchen Schreck ein, daß sein
                Eifer, ihnen zu folgen, erlahmte. Das zweite Mittel war folgendes. Ein
                gewisser Appius Herdonius hatte mit einem Haufen von 4000
                Verbannten und Sklaven bei Nacht das Kapitol besetzt, 460 v. Chr. Vgl.
                ebd. 15 ff. Livius spricht von 2500 Mann. und es stand zu befürchten,
                daß die Äquer und Volsker, Roms Erbfeinde, gegen die Stadt rückten und

                sie eroberten. Trotzdem bestanden die Tribunen hartnäckig auf der
                Durchführung des Terentilischen Gesetzes und behaupteten, der Überfall
                auf das Kapitol sei von den Patriziern selbst veranlaßt. Da trat Publius
                Rubetius, Ebd. 17. Bei Livius ist es der Konsul Publius Valerius. ein
                angesehener und ehrwürdiger Senator, unter das Volk, stellte ihm die
                Gefahr der Stadt und sein unzeitiges Verlangen vor und brachte es durch

                teils freundliche, teils drohende Worte dahin, daß es schwor, den
                Befehlen des Konsuls zu gehorchen. Nun eroberte das gehorsame Volk
                das Kapitol mit Gewalt zurück. Da aber beim Sturm der Konsul Publius
                Valerius gefallen war, wurde sofort Titus Quinctius Nach Livius (l. c.)
                Lucius Quinctius Cincinnatus. zum Konsul gewählt. Um das Volk nicht
                zur Besinnung kommen zu lassen und ihm keine Zeit zu geben, an das
                Terentilische Gesetz zu denken, gab dieser den Befehl, aus Rom

                auszurücken und gegen die Volsker zu ziehen. Dabei berief er sich auf
                den vom Volke geleisteten Schwur, den Konsul nicht zu verlassen. Die
                Tribunen widersetzten sich zwar und behaupteten, jener Schwur sei dem
                verstorbenen Konsul und nicht ihm geleistet. Trotzdem wollte das Volk,
                wie Livius zeigt, aus Scheu vor der Religion lieber dem Konsul
                gehorchen als den Tribunen glauben. Zum Lobe der alten Gottesfurcht

                braucht Livius hier III, 20. die Worte: Nondum haec, quae nunc tenet
                saeculum, negligentia Deum venerat, nec interpretanda sibi
                quisque iusiurandum et leges aptas faciebat. (Noch war die

                heute eingerissene Gottlosigkeit nicht gekommen; noch legte man sich
                Eide und Gesetze nicht nach seiner Bequemlichkeit aus.) Die Tribunen
                aber, um ihren Einfluß beim Volke besorgt, kamen mit dem Konsul
                überein, ihm Gehorsam zu leisten und ein Jahr lang das Terentilische
                Gesetz ruhen zu lassen; dafür sollten die Konsuln ein Jahr lang das Volk
                nicht zum Kriege ins Feld führen dürfen. So überwand der Senat diese
                Schwierigkeit durch die Religion, ohne die er sie nie besiegt hätte.








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