Page 728 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Zwölftes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Wie wichtig es ist, die Religion zu erhalten, und wie Italien durch die
Schuld der römischen Kirche die seine verlor und dadurch in Verfall
geriet.
Monarchien und Republiken, die sich unverdorben erhalten wollen,
müssen vor allem die religiösen Bräuche rein und in Ehrfurcht erhalten.
Denn es gibt kein schlimmeres Zeichen für den Verfall eines Landes als
die Mißachtung des Gottesdienstes. Das ergibt sich leicht, wenn man
erkannt hat, worauf sich die Religion, in der ein Mensch geboren ist,
gründet. Denn jede Religion hat ihre eigenen Grundlagen und ihr
Lebensprinzip. Die heidnische beruhte auf den Orakelsprüchen und auf
dem Stande der Auguren und Haruspices; alle übrigen Zeremonien,
Opfer und Bräuche hingen davon ab. Denn die Menschen glaubten
leicht, daß der Gott, der ihnen ihr zukünftiges Glück oder Unglück
voraussagen konnte, auch imstande war, es ihnen widerfahren zu lassen.
Daraus entstanden die Tempel, die Opfer, die Bitt- und Dankfeste und
alle andern Kultgebräuche; denn das Orakel zu Delphi, der Tempel des
Jupiter Ammon und andre berühmte Orakelstätten hielten die Welt in
Bewunderung und Andacht. Als sie aber später nach dem Willen der
Machthaber zu sprechen begannen und die Völker den Betrug merkten,
wurden sie ungläubig und zur Störung jeder guten Ordnung geneigt.
Die Leiter einer Republik oder eines Königreichs müssen daher die
Grundlagen ihrer Religion erhalten; dann wird es ihnen leicht sein, ihren
Staat in Gottesfurcht und somit gut und einträchtig zu erhalten. Alles,
was zugunsten der Religion geschieht, mögen sie selbst es auch für
falsch halten, müssen sie unterstützen und fördern, und zwar um so
mehr, je klüger sie sind und je besser sie die Welt kennen. Da nun alle
klugen Männer nach dieser Regel verfuhren, so entstand der Glaube an
Wunder, die auch in den falschen Religionen gefeiert werden; denn die
Klugen vergrößern sie ohne Rücksicht auf ihren Ursprung, und ihr
Ansehen verschafft ihnen dann Glauben bei der Menge.
Solcher Wunder gab es in Rom viele, unter anderm dies: Bei der
Plünderung der Stadt Veji 395 v. Chr. Vgl. Livius V, 22. traten einige
römische Soldaten in den Tempel der Juno, näherten sich dem Kultbild
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