Page 726 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Bei aufmerksamem Lesen der römischen Geschichte wird man stets
                finden, wie sehr die Religion zum Gehorsam im Heere, zur Eintracht im
                Volke, zur Erhaltung der Sittlichkeit und zur Beschämung der Bösen

                beitrug. Vgl. ebd. X, 2,6ff., und Plutarch, Marcellus, IV. Wenn man also
                zu entscheiden hätte, welchem König Rom mehr Dank schuldete, dem
                Romulus oder Numa, so glaube ich, daß Numa den Vorrang verdient.
                Denn wo Religion ist, läßt sich leicht eine Kriegsmacht aufrichten, wo
                aber Kriegsmacht ohne Religion ist, läßt sich diese nur schwer einführen.
                Man sieht ja auch, daß Romulus zur Einsetzung des Senats und zu den
                andern bürgerlichen und militärischen Einrichtungen die Gottesfurcht

                nicht nötig hatte, wohl aber Numa, der Zusammenkünfte mit einer
                Nymphe vorgab, die ihn belehrte, was er dem Volke anraten sollte. Dies
                tat er aber nur, weil er neue und ungewohnte Einrichtungen treffen
                wollte, für die sein eignes Ansehen ihm nicht hinreichend erschien. In
                der Tat gab es nie einen außerordentlichen Gesetzgeber bei einem Volke,
                der sich nicht auf Gott berufen hätte, weil seine Gesetze sonst gar nicht

                angenommen worden wären. Denn ein kluger Mann erkennt vieles Gute,
                aber die Gründe dafür sind nicht so augenscheinlich, daß man andre
                davon überzeugen könnte. Darum nehmen weise Männer ihre Zuflucht
                zu Gott, so Lykurg, so Solon und viele andre, die den gleichen Zweck
                verfolgten. Vgl. Polybios, X, 2, [10] ff., und VI, 56, [11] ff.
                     Das römische Volk bewunderte also die Tugend und Weisheit des
                Numa und folgte in allem seinem Rat. Allerdings erleichterte ihm der

                religiöse Sinn der Zeit und die Rohheit der damaligen Menschen die
                Ausführung seiner Pläne bedeutend, denn er konnte ihnen jede neue
                Form ohne Mühe aufprägen. Auch heute würde der Begründer eines
                Staatswesens zweifellos geringere Mühe bei den noch ganz
                unkultivierten Bergbewohnern haben als in den Städten, wo die Sitten
                verdorben sind, wie ein Bildhauer eine schöne Statue leichter aus einem

                rohen Marmorblock meißelt als aus einem, der von andern schlecht
                zugehauen ist. Alles in allem genommen, ziehe ich also den Schluß, daß
                die von Numa eingeführte Religion zu den Hauptursachen von Roms
                Gedeihen gehörte. Denn sie führte zu guten Einrichtungen, diese aber
                bringen Glück, und aus dem Glück entsprangen die guten Erfolge aller
                Unternehmungen.
                     Wie aber die Gottesfurcht die Ursache für die Größe der Staaten ist,

                so ist ihr Schwinden die Ursache ihres Verfalls. Denn wo die
                Gottesfurcht fehlt, da muß ein Reich in Verfall geraten, oder die Furcht
                vor dem Fürsten muß den Mangel an Religion ersetzen. Da aber die
                Fürsten ein kurzes Leben haben, muß ein Reich sofort verfallen, wenn





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