Page 733 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Vierzehntes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                  Die Römer legten die Auspizien je nach der Notwendigkeit aus. Sie
                 wahrten klüglich den Schein, die Religion zu beobachten, auch wenn
                   sie sie notgedrungen nicht beobachteten, und wenn jemand sie in
                             vermessener Weise mißachtete, bestraften sie ihn.


                Die Augurien bildeten nicht nur, wie oben gesagt, die Hauptgrundlage
                der altheidnischen Religion, sondern sie waren auch die Ursache des

                Gedeihens der römischen Republik. Daher sorgten die Römer mehr für
                sie als für irgendeinen andern Brauch. Sie bedienten sich ihrer bei den
                Konsulwahlen, beim Beginn der Feldzüge, beim Auszuge der Heere, vor
                den Schlachten und bei jeder wichtigen bürgerlichen oder kriegerischen
                Handlung. Nie hätten sie einen Feldzug unternommen, ohne die Soldaten

                zu überzeugen, daß ihnen die Götter den Sieg verhießen. Unter den
                übrigen Wahrsagungen hatten sie bei den Heeren gewisse Auspizien, die
                sie Pullarien nannten. So oft sie dem Feind eine Schlacht liefern wollten,
                mußten die Pullarier ihre Auspizien anstellen. Fraßen die Hühner, so
                focht man mit guten Vorzeichen, fraßen sie nicht, so gab man den Kampf
                auf. Gebot jedoch die Vernunft, etwas auszuführen, so wurde es auch bei
                ungünstigen Auspizien unter allen Umständen ausgeführt; nur wandte

                und deutete man die Sache so geschickt, daß sie nicht unter Mißachtung
                der Religion zu geschehen schien.
                     Diesen Kunstgriff benutzte der Konsul Papirius bei einer
                Entscheidungsschlacht mit den Samnitern, durch die diese für immer
                geschwächt und niedergebeugt blieben Lucius Papirius Cursor schlug die
                Samniter 293 v. Chr. bei Aquilonia. Vgl. Livius X, 38 ff. Papirius stand

                in seinem Lager den Samnitern gegenüber, und da ihm der Sieg gewiß
                schien, wollte er eine Schlacht liefern. Er befahl also den Pullariern, ihre
                Auspizien anzustellen, aber die Hühner wollten nicht fressen. Da nun der
                Vorsteher der Pullarier die große Kampflust des Heeres und die
                Siegeszuversicht des Feldherrn und der Soldaten sah, wollte er dem
                Heere die Gelegenheit zu einer glänzenden Waffentat nicht nehmen und
                meldete dem Konsul, die Auspizien seien günstig. Als Papirius nun das

                Heer in Schlachtordnung aufstellte, sagten einige Pullarier zu den
                Soldaten, die Hühner hätten nicht gefressen, und diese teilten es dem





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