Page 739 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 739
Freiheit. Klearchos sah sich also zwischen den Übermut der Vornehmen,
die er in keiner Weise befriedigen noch zügeln konnte, und zwischen die
Wut des Volkes gestellt, das den Verlust der Freiheit nicht verschmerzen
konnte. So faßte er den Entschluß, sich mit einem Schlage von den
lästigen Großen zu befreien und das Volk für sich zu gewinnen. Bei
passender Gelegenheit ließ er zur größten Befriedigung des Volkes alle
Vornehmen in Stücke hauen und befriedigte so einen der Wünsche, die
das Volk hat, nämlich den, sich zu rächen.
Was aber den andern Wunsch des Volkes, den nach Freiheit, betrifft,
so muß der Fürst, der ihn nicht erfüllen kann, die Ursachen dieses
Freiheitsdranges untersuchen. Dabei wird er finden, daß nur ein geringer
Teil des Volkes die Freiheit will, um zu befehlen, aber die überwiegende
Mehrzahl, um sicher zu leben. Denn in jedem Gemeinwesen, welche
Verfassung es auch haben möge, gelangen zu den leitenden Stellen
höchstens 40 bis 50 Bürger, und bei ihrer geringen Zahl ist es leicht, sich
ihrer zu versichern, indem er sie entweder beseitigt, oder sie so
auszeichnet, daß sie, je nach ihrem Stande, im großen und ganzen
zufrieden sein können. Die andern aber, die nur sicher leben wollen, sind
leicht zufriedengestellt, wenn er Einrichtungen und Gesetze schafft, die
mit seiner eignen Macht die öffentliche Sicherheit erhalten. Tut ein Fürst
das, und sieht das Volk, daß er bei keiner Gelegenheit die Gesetze bricht,
so wird es bald anfangen, sicher und zufrieden zu leben. Einen Beweis
hierfür bietet das Königreich Frankreich, in dem nur deshalb Sicherheit
herrscht, weil die Könige an zahllose Gesetze gebunden sind, die die
Sicherheit aller ihrer Völker verbürgen. Der Ordner dieses Reiches gab
den Königen freie Verfügung über das Kriegswesen und die Finanzen, in
allem übrigen aber band er sie an die Gesetze. Wohl Ludwig XI. (1461-
83), der den schon von Ludwig dem Heiligen (1226-70) begründeten
Einheitsstaat ausbaute.
Ein Fürst oder eine Republik also, die sich nicht von Anfang an
sichern, müssen dies, wie die Römer, bei der ersten Gelegenheit
nachholen. Wer dies versäumt, bereut zu spät, es nicht getan zu haben.
Als das römische Volk seine Freiheit wiedererlangte, war es noch
unverdorben und konnte sie daher nach der Hinrichtung der Söhne des
Brutus und dem Aussterben der Tarquinier durch die oben genannten
Mittel und Einrichtungen behaupten. Wäre es jedoch verderbt gewesen,
so hätte sich weder in Rom noch anderswo ein wirksames Mittel zur
Erhaltung der Freiheit gefunden, wie im nächsten Kapitel gezeigt werden
soll.
738