Page 744 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Menschen gut zu erhalten; wohl aber hätte sie genügt, wenn mit der
                Erneuerung der Gesetze die der Einrichtungen gleichen Schritt gehalten
                hätte. Daß diese Einrichtungen in der verderbten Stadt nicht mehr gut

                waren, zeigt sich deutlich an zwei Hauptpunkten: der Ernennung der
                Behörden und der Gesetzgebung.
                     Was die Wahl der Behörden betrifft, so verlieh das Volk das Konsulat
                und die andern höchsten Ämter nur an solche, die sich darum bewarben.
                Diese Einrichtung war zu Anfang gut, denn es bewarben sich nur solche
                Bürger, die sich dieser Ämter für würdig hielten, und eine
                Zurückweisung war schimpflich. Um also für würdig gehalten zu

                werden, führte jeder sich wohl auf. Später, in der verderbten Stadt, wurde
                dieser Brauch höchst verderblich; denn jetzt bewarben sich nicht die
                Tüchtigsten, sondern die Mächtigsten um die Ämter, und die Tüchtigen,
                aber Machtlosen wagten sich nicht zu bewerben. Zu diesem Übelstand
                gelangte man nicht auf einmal, sondern stufenweise, wie bei allen
                anderen Übelständen. Nachdem die Römer Afrika und Asien bezwungen

                und fast ganz Griechenland unterworfen hatten, machten sie sich keine
                Sorge mehr um ihre Freiheit und glaubten keine gefährlichen Feinde
                mehr zu haben. Infolge dieser Sorglosigkeit und dieser Schwäche der
                Feinde sah das römische Volk bei der Wahl der Konsuln nicht mehr auf
                Tüchtigkeit, sondern es entschied nach Gunst und wählte Leute, die den
                Bürgern zu Gefallen redeten, nicht aber solche, die am besten zu siegen
                verstanden. Später wandte es sich von denen, die am meisten in Gunst

                standen, zu denen, die die meiste Macht hatten. Durch die Mängel dieser
                Einrichtung blieben die Tüchtigen ganz ausgeschlossen.
                     Was zweitens die Gesetzgebung betraf, so konnte ein Tribun oder
                irgendein Bürger dem Volke ein Gesetz vorschlagen, für oder gegen das
                jeder Bürger sich äußern konnte, ehe darüber beschlossen wurde. Diese
                Einrichtung war gut, solange die Bürger gut waren; denn es war immer

                gut, daß einer, der etwas zum Besten des Volkes weiß, es vorschlagen
                und daß jeder seine Meinung darüber sagen kann, damit das Volk jeden
                anhören und dann das Beste wählen kann. Als jedoch die Bürger schlecht
                geworden waren, wurde diese Einrichtung sehr schlecht; denn nur die
                Mächtigen schlugen Gesetze vor, nicht zugunsten der allgemeinen
                Freiheit, sondern zur Vergrößerung ihrer Macht, und aus Furcht vor
                ihnen konnte niemand widersprechen. So wurde das Volk betrogen oder

                gezwungen, sein eignes Verderben zu beschließen.
                     Wollte sich Rom also in seiner Verderbtheit frei erhalten, so mußte es
                in dem Maße, wie es neue Gesetze schuf, auch neue Einrichtungen
                schaffen, denn einem kranken Körper muß man andre Regeln und eine





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