Page 743 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Achtzehntes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                  Wie in verderbten Staaten eine freie Verfassung, die schon besteht,
                    erhalten werden, und wenn sie nicht besteht, eingeführt werden
                                                         kann.


                Ich halte es nicht für unangebracht noch dem vorigen Kapitel
                widersprechend, wenn ich die Frage aufwerfe, ob sich in einem
                verderbten Staat eine bestehende freie Verfassung erhalten oder eine

                nicht bestehende einführen läßt. Beides ist sehr schwierig. Auch läßt sich
                kaum eine Vorschrift dafür geben, da hier verschiedene Stufen von
                Verderbtheit in Betracht kommen. Da es aber gut ist, alle Dinge zu
                erörtern, will ich an dieser Frage nicht vorübergehen.
                     Setzen wir einen ganz verderbten Staat voraus, um die Schwierigkeit

                aufs höchste zu steigern; denn um die allgemeine Verderbnis
                aufzuhalten, gibt es weder Gesetze noch Einrichtungen. Wie gute Sitten
                zu ihrer Erhaltung der Gesetze bedürfen, sind zu ihrer Befolgung auch
                gute Sitten erforderlich. Vgl. Polybios, IV, 47, i. Zudem sind die
                Einrichtungen und Gesetze aus der Entstehungszeit eines Staatswesens,
                als die Menschen noch gut waren, später, wenn sie schlecht geworden
                sind, nicht mehr tauglich. Und wenn sich auch die Gesetze einer Stadt im

                Laufe der Ereignisse ändern, so ändern sich ihre Einrichtungen doch nie
                oder selten. Infolgedessen genügen die neuen Gesetze nicht, weil die
                feststehenden Einrichtungen sie verderben.
                     Zum besseren Verständnis dieser Tatsache ziehe ich Rom heran. Hier
                bestand zunächst die Verfassung oder Staatsordnung und ferner die
                Gesetze, durch die die Behörden die Bürger im Zaum hielten. Die

                Staatsordnung bestand in der Gewalt des Volkes, des Senats, der
                Tribunen, der Konsuln, in der Wahl und Ernennung der Behörden und in
                der Gesetzgebung. An diesen Einrichtungen wurde durch die Ereignisse
                wenig oder gar nichts geändert. Es änderten sich nur die Gesetze, die die
                Bürger im Zaum hielten, wie das Gesetz gegen den Ehebruch, das
                Aufwandsgesetz, das Gesetz über die Ämterbewerbung und viele andre,
                in dem Maße, wie die Bürger allmählich verderbter wurden. Da nun die

                Staatsordnung die gleiche blieb und bei der Verderbtheit der Sitten nicht
                mehr gut war, so reichte die Erneuerung der Gesetze nicht hin, um die





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