Page 818 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Vierundfünfzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                 Welche Macht ein angesehener Mann über eine empörte Menge hat.


                Bei der im vorigen Kapitel erwähnten Geschichte ist zweitens
                bemerkenswert, daß nichts so geeignet ist, eine empörte Menge zu
                zügeln, wie die Ehrfurcht vor einem ernsten und angesehenen Manne,
                der ihr entgegentritt. Nicht ohne Grund sagt Virgil: Aeneis I, 151 f.

                        Tum pietate gravem ac meritis si forte virum quem
                        Conspexere, silent arrectisque auribus adstant.


                (Sehen sie dann einen Mann, durch Verdienst und Tugend ehrwürdig,
                Siehe, dann schweigen sie still und stehn mit gespitzten Ohren.)
                     Wer daher an der Spitze eines Heeres steht oder sich in einer Stadt
                befindet, wo ein Aufruhr ausbricht, muß so würdevoll und prächtig
                auftreten, als er kann, und die Abzeichen seines Ranges anlegen, um sich

                desto ehrwürdiger zu machen. Vor wenigen Jahren war Florenz in zwei
                Parteien gespalten, die Anhänger des Savonarola S. Lebenslauf, 1494.
                und die Arrabbiati (Wütenden), wie sie sich nannten. Die ersteren, unter
                denen sich Paolo Antonio Soderini, ein sehr angesehener Bürger, befand,
                unterlagen in einem Aufruhr, und das Volk zog bewaffnet vor sein Haus,
                um es zu plündern. Sein Bruder, Messer Francesco, damals Bischof von
                Volterra und heute Kardinal, war zufällig im Hause. Beide waren Brüder

                des Gonfaloniers Piero Soderini. Sobald er den Lärm hörte und den
                Volkshaufen sah, legte er seine prächtigsten Kleider an, warf das
                bischöfliche Chorhemd darüber, trat auf die Bewaffneten zu und brachte
                sie durch sein Auftreten und seine Worte zum Einhalt. Dies Benehmen
                wurde viele Tage lang in der ganzen Stadt besprochen und gerühmt. Ich
                schließe daraus, daß es kein stärkeres und notwendigeres Mittel gibt,

                eine empörte Menge zu zügeln, als das Auftreten eines Mannes, der
                durch seine Erscheinung Ehrfurcht erweckt. Man sieht aber – um zu der
                angeführten Erzählung zurückzukommen –, wie hartnäckig das römische
                Volk darauf bestand, nach Veji überzusiedeln, weil es diesen Entschluß
                für nützlich hielt und seine Nachteile nicht erkannte, und wie die daraus
                entstehenden Unruhen zum Aufruhr angewachsen wären, hätte der Senat
                die Volkswut nicht durch ernste und ehrwürdige Männer gezügelt.






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