Page 844 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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nehmen, die sie der Freiheit beraubt haben. Von den vielen vorhandenen
Beispielen will ich nur eins aus der griechischen Stadt Korkyra anführen.
Die obige Bluttat (nach Thukydides IV, 47 f.) fand 423 v. Chr. statt. Zur
Zeit des peloponnesischen Krieges war Griechenland in zwei Parteien
gespalten, die athenische und die spartanische. So bildete sich in vielen
Städten, die im Innern gespalten waren, gleichfalls eine athenische und
eine spartanische Partei. Als nun in Korkyra der Adel die Oberhand
erlangt und dem Volke die Freiheit geraubt hatte, riß die Volkspartei mit
Hilfe der Athener von neuem die Gewalt an sich, bemächtigte sich aller
Adligen, schloß sie allesamt in ein Gefängnis ein und nahm je acht bis
zehn auf einmal heraus, unter dem Vorwand, sie nach verschiedenen
Orten in die Verbannung zu schicken, ließ sie aber unter grausamen
Martern hinrichten. Als das die noch Übriggebliebenen merkten,
beschlossen sie, soviel in ihren Kräften stand, diesem schmählichen Tod
zu entgehen. Sie bewaffneten sich so gut sie konnten und verteidigten
den Eingang des Gefängnisses. Das Volk aber, das sich auf den Lärm hin
zusammenrottete, riß das Dach des Gebäudes ein und begrub sie alle
unter den Trümmern. Viele andre, gleich schreckliche und denkwürdige
Fälle ereigneten sich noch in Griechenland. Man sieht also, wie wahr es
ist, daß der Raub der Freiheit viel blutiger gerächt wird als der Versuch,
sie zu rauben.
Wenn ich nun über die Ursache nachdenke, weshalb die Völker des
Altertums mehr Freiheitsliebe besaßen als die jetzigen, so glaube ich, es
ist die gleiche wie bei der Kraftlosigkeit der jetzigen Menschen, nämlich
die Verschiedenheit unsrer Erziehung und der Erziehung der Alten, die in
der Verschiedenheit der Religion liegt. Denn da unsre Religion uns die
Wahrheit und den wahren Weg gezeigt hat, läßt sie uns die weltliche
Ehre geringer schätzen. Die Heiden hingegen schätzen sie sehr hoch und
hielten sie für ihr höchstes Gut, und darum waren sie kühner in ihren
Taten. Das läßt sich aus vielen ihrer Einrichtungen erkennen. Man
braucht nur die Pracht ihrer Opfer mit der Demut der unsern zu
vergleichen, bei denen mehr Feinheit als Pracht herrscht und keine
furchtbare oder kraftvolle Handlung vorkommt. Dort aber kamen zur
Pracht und Großartigkeit der Zeremonien noch blutige und grausame
Opferbräuche. Eine Menge von Tieren wurde abgeschlachtet, und die
Menschen wurden durch dies furchtbare Schauspiel auch kühn und
furchtbar. Die alte Religion sprach überdies nur Männer voll weltlichen
Ruhmes heilig, wie Feldherren und Staatenlenker. Unsre Religion hat
mehr die demütigen und beschaulichen Menschen als die tätigen selig
gesprochen. Sie hat das höchste Gut in Demut, Entsagung und
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