Page 845 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 845

Verachtung des Irdischen gesetzt; jene setzte es in hohen Mut,
                Leibesstärke und alles, was den Menschen kraftvoll machte. Verlangt
                auch unsre Religion, daß man stark sei, so will sie doch, daß man diese

                Stärke im Leiden und nicht in kraftvollen Taten äußert. Diese
                Lebensweise scheint also die Welt schwach gemacht und sie den
                Bösewichtern zur Beute gegeben zu haben. Die können ungefährdet über
                sie schalten, denn sie sehen ja, daß die große Mehrzahl der Menschen,
                um ins Paradies einzugehen, mehr darauf bedacht ist, Beleidigungen zu
                ertragen als zu rächen. Scheint aber die Welt auch weibisch geworden
                und der Himmel keine Blitze mehr zu haben, so kommt dies doch

                zweifellos mehr von der Erbärmlichkeit derer, die unsre Religion mehr
                zum Vorteil des Müßiggangs als der Tatkraft ausgelegt haben. Denn
                bedächten sie, daß die Religion den Kampf für die Größe und
                Verteidigung des Vaterlandes zuläßt, so sähen sie auch ein, daß wir die
                Pflicht haben, es zu lieben und uns zu seiner Verteidigung tüchtig zu
                machen. Unsre Erziehung also und die falsche Auslegung der Religion

                sind schuld daran, daß es nicht mehr soviel Republiken gibt wie in alter
                Zeit und daß man mithin bei den Völkern auch nicht mehr soviel
                Freiheitsliebe findet wie damals. Ich möchte freilich noch eine nähere
                Ursache dafür in der Herrschaft der Römer finden, die durch ihre Waffen
                und ihre Größe alle Republiken und alle bürgerliche Freiheit zerstört
                haben. Obwohl sich dies Reich später auflöste, haben sich doch die
                Städte und Völker mit geringen Ausnahmen nicht wieder zusammentun

                noch sich freie Verfassungen geben können.
                     Wie dem aber auch sei, jedenfalls fanden die Römer auf jedem
                Fleckchen Erde einen Bund wohlbewaffneter Republiken, die ihre
                Freiheit auf das hartnäckigste verteidigten. Ohne seltene, ausnehmende
                Tapferkeit hätten sie diese also nie überwinden können. Ich will nur das
                Beispiel der Samniter anführen, das bewundernswürdig ist. Wie Livius

                gesteht, waren sie so stark und ihre Waffen so mächtig, daß sie den
                Römern bis zur Zeit des Papirius Cursor, des Sohnes des ersten Papirius,
                46 Jahre Widerstand leisteten, nachdem sie so viele Niederlagen erlitten
                hatten, so viele Städte zerstört und ihr Land so häufig verwüstet war.
                Lucius Papirius Cursor war 324 v. Chr. Diktator im zweiten
                Samniterkrieg; sein gleichnamiger Sohn schlug die Samniter 293 bei
                Aquilonia im dritten Samniterkrieg entscheidend. Vgl. Buch I, Kap. 15.

                Unser Staunen wächst, wenn man das Land, das so viele Städte und
                Menschen zählte, jetzt fast wüst und leer sieht; aber damals herrschte so
                viel Ordnung und Kraft darin, daß es nur durch römische Tapferkeit
                überwunden werden konnte. Und es ist leicht einzusehen, woher diese





                                                          844
   840   841   842   843   844   845   846   847   848   849   850