Page 846 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Ordnung kam und woraus der jetzige Verfall herrührt: damals war es frei,
                jetzt lebt es in Knechtschaft. Wie oben gesagt, machen alle Städte und
                Länder, die in jeder Hinsicht frei sind, die größten Fortschritte. Dort sieht

                man die größte Volkszahl, weil die Ehen freier und begehrenswerter sind.
                Jeder zeugt gern soviel Kinder, als er ernähren zu können glaubt, denn er
                braucht ja nicht zu fürchten, daß ihm sein Erbteil genommen werde, und
                er weiß, daß sie als Freie und nicht als Sklaven geboren werden, ja daß
                sie durch ihre Tüchtigkeit zur höchsten Würde gelangen können. Dort
                vermehren sich die Reichtümer, die Früchte des Ackerbaues und des
                Gewerbefleißes in größerem Maße. Jeder vermehrt gern seinen Besitz

                und sucht Güter zu erwerben, die er, wenn er sie erworben hat, genießen
                zu können glaubt. Die Bürger wetteifern in der Vermehrung des eignen
                und öffentlichen Wohlstandes, und beides wächst in staunenswerter
                Weise.
                     Das Gegenteil von alledem tritt in Ländern ein, die in Knechtschaft
                leben. Der gewohnte Wohlstand fehlt ihnen um so mehr, je härter ihre

                Knechtschaft ist. Die härteste aller harten Knechtschaften aber ist die
                Unterwerfung unter eine Republik; denn erstens ist sie von längerer
                Dauer und gewährt daher weniger Hoffnung, sie loszuwerden, und
                zweitens hat die Republik das Bestreben, zur Vergrößerung ihres eignen
                Staatskörpers alle andern zu entnerven und zu schwächen. Das tut kein
                Fürst, der ein Land unterwirft, wenn er nicht ein Barbar, ein
                Länderverwüster und Zerstörer jeder bürgerlichen Ordnung ist, wie die

                orientalischen Herrscher. Hat er aber menschliche und natürliche
                Gefühle, so liebt er seine untergebenen Städte meist gleichmäßig und
                läßt ihnen alle ihre Gewerbe und fast alle ihre alten Einrichtungen. Wenn
                sie also auch nicht wachsen können wie freie Städte, so gehen sie doch
                auch nicht zugrunde wie in Knechtschaft befindliche. Mit Knechtschaft
                meine ich hier, wenn Städte von einer fremden Macht unterjocht werden,

                denn von der Dienstbarkeit unter einem ihrer Bürger sprach ich schon
                oben. Buch II, Kap. 2.
                     Erwägt man also alles Gesagte, so wird man sich über die Macht der
                Samniter während ihrer Freiheit so wenig wundern wie über ihre
                Schwäche, als sie in Knechtschaft gerieten. Livius bezeugt dies an
                mehreren Stellen, besonders wo er vom Kriege mit Hannibal spricht.
                Hier erzählt er, daß die Samniter, als sie durch die römische Besatzung

                von Nola hart gedrängt wurden, den Hannibal durch Gesandte um Hilfe
                bitten ließen. 215 v. Chr. Vgl. Livius XXIII, 42. In ihrer Rede sagten die
                Gesandten, sie hätten hundert Jahre lang mit ihren eignen Soldaten und
                eignen Anführern gegen die Römer gekämpft und oftmals zwei





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