Page 875 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Vierzehntes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                 Oft täuscht man sich, wenn man durch Bescheidenheit den Hochmut
                                                zu besiegen glaubt.


                Man sieht oft, daß Bescheidenheit nicht nur nichts hilft, sondern schadet,
                besonders gegen Übermütige, die aus Neid oder andern Gründen Haß
                gegen uns gefaßt haben. Das bezeugt unser Geschichtsschreiber bei der
                Darlegung der Ursache des Krieges zwischen Latinern und Römern. Als

                sich nämlich die Samniter bei den Römern über den Angriff der Latiner
                beschwerten, wollten die Römer den Latinern diesen Krieg nicht
                verbieten, um sie nicht zu reizen. Sie wurden dadurch aber nicht nur
                nicht gereizt, sondern nur noch dreister und erklärten sich um so früher
                als Feinde. Das bezeugen die Worte des erwähnten latinischen Prätors

                Annius Setinus; s. Kap. 13. in der Ratsversammlung: Tentastis
                patientiam negando militem: quis dubitat exarsisse eos?
                Pertulerunt tamen hunc dolorem. Exercitus nos parare adversus
                Samnites foederatos suos audierunt, nec moverant se ab urbe.
                Unde haec illis tanta modestia, nisi a conscientia virium, et
                nostrarum et suarum? Livius VIII, 4. (Ihr habt ihre Geduld geprüft,
                indem ihr ihnen die Soldaten abschluget. Wer zweifelt, daß sie darüber in

                Zorn entbrannten? Und doch ertrugen sie diesen Schmerz. Daß wir
                Heere gegen die Samniter, ihre Verbündeten aufstellten, haben sie gehört
                und sich doch nicht aus ihrer Stadt gerührt. Woher kommt diese
                Bescheidenheit, wenn nicht aus der Erkenntnis ihrer Kräfte und der
                unsern?) Man erkennt hieraus ganz deutlich, wie sehr die Geduld der

                Römer den Übermut der Latiner steigerte.
                     Ein Fürst darf daher seiner Würde nie etwas vergeben und nie, wenn
                er etwas mit Ehren abtreten will, es mittels eines Vergleichs tun, es sei
                denn, daß er es wirklich behaupten kann oder behaupten zu können
                glaubt. Ist es so weit gekommen, daß du etwas nicht auf diese Weise
                abtreten kannst, so ist es fast immer besser, es dir mit Gewalt entreißen
                zu lassen als durch die Furcht vor Gewalt. Denn trittst du es aus Furcht

                ab, so tust du es, um einen Krieg zu vermeiden, erreichst dies aber meist
                nicht, denn der Feind, dem du das eine aus offenbarer Feigheit
                zugestanden hast, wird damit nicht zufrieden sein, sondern dir auch noch
                mehr entreißen wollen und nur noch hitziger werden, da er dich weniger





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