Page 90 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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und überhaupt auch viele andere derartige Lügen mögen sie uns nicht
                vorsagen. Und hinwiederum sollen auch nicht die Mütter Diesem
                Glauben schenkend ihre Kinder in Furcht setzen, indem sie in

                ungehöriger Weise Fabeln erzählen, daß irgend Götter des Nachts
                herumwandeln, vielen und mancherlei fremden gleichend, damit sie
                nemlich nicht einerseits gegen die Götter lästern und andrerseits zugleich
                ihre Kinder feig machen. – Nein, sie sollen es nicht, sagte er. – Sind aber
                etwa, sagte ich, die Götter wohl an sich selbst derartig, daß sie sich nicht
                verwandeln, und bewirken sie hingegen nur für uns durch Täuschung
                und Zauberei, daß sie uns in mancherlei Gestalten vorzukommen

                scheinen? – Vielleicht, sagte er. – Wie aber? sprach ich; möchte wohl ein
                Gott in Wort oder That durch Vorspiegelung eines Trugbildes täuschen
                wollen? – Ich weiß es nicht, sagte er. – Du weißt nicht, erwiederte ich,
                daß die wahrhaftige Täuschung, wenn es möglich ist, eben diesen
                Ausdruck zu gebrauchen, alle Götter und Menschen hassen? – Wie
                meinst du dieß? sagte er. – Ich meine es so, sprach ich, daß Niemand mit

                dem Eigentlichsten und betreffs des Eigentlichsten, was ihm gehört,
                freiwillig täuschen will, sondern es am meisten von Allem fürchtet, in
                jenem eine Täuschung mit sich herumzutragen. – Auch jetzt noch
                verstehe ich es nicht, sagte er. – Du meinst nemlich wohl, sprach ich, daß
                ich hiemit etwas gar Großartiges sage; ich sage aber ja nur, daß, wenn
                man in seiner eigenen Seele betreffs des Seienden täuscht und getäuscht
                ist und unwissend ist und dort selbst die Täuschung hat und mit sich

                herumträgt, dieß wohl Alle am wenigsten sich gefallen ließen und
                zumeist an Derartigem hassen würden. – Ja, bei Weitem, sagte er. – Nun
                aber möchte ja am richtigsten das, was ich jetzt gerade sagte, eben eine
                wahrhafte Täuschung genannt werden, nemlich die Unwissenheit des
                Getäuschten in seiner eigenen Seele selbst, da ja dasjenige, was in der
                Rede enthalten ist, nur irgend eine Nachahmung eines Vorganges in der

                Seele und ein späteres Abbild desselben, nicht aber selbst schon eine
                völlig unvermischte Täuschung ist; oder ist es nicht so? – Ja, allerdings
                wohl. –
                     21. Die wirkliche Täuschung demnach wird nicht bloß von Göttern,
                sondern auch von Menschen gehaßt. – So scheint es mir. – Wie aber
                nun? ist die in den Reden liegende Täuschung wohl zuweilen auch
                irgend etwas Nützliches, so daß sie nicht hassenswerth ist? wird sie etwa

                nicht gegen die Feinde und gegen manche der sogenannten Freunde,
                wenn sie aus Wahnsinn oder irgend einem Unverstande etwas Schlimmes
                zu vollführen versuchenS. oben B. I, Cap. 6 das Beispiel von dem
                Wahnsinnigen, welcher seine Waffen zurückfordert., dann um der





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